Der Regisseur Chris Kraus ist ein Solitär in der deutschen Kinolandschaft: Er gehört keiner Schule an, weder der Berliner mit ihren ruhigen Einstellungen, noch der Ludwigsburger mit ihrer Liebe zum Genre. Sein Thema sind eher Familie und Melodram. Mit Hannah Herzsprung drehte er 2007 seinen bisher erfolgreichsten Film, das Arthouse-Drama „Vier Minuten“. Eineinhalb Jahrzehnte später kommt eine Fortsetzung mit der gleichen Hauptfigur und einer neuen Geschichte ins Kino: „15 Jahre“.
Der Vergangenheit entkommen
Jenny von Loeben leidet unter dem Gewicht ihrer Vergangenheit. Die immer noch junge Frau, die 15 Jahre im Gefängnis war, steckt aber auch voller Poesie und Sensibilität. Sie ist eine hochbegabte, ausdrucksstarke Pianistin. Sie will kein Klavier mehr anfassen, aber sie kann nicht von ihm lassen. Und natürlich sind es das Klavier und die Kunst, die diesen Film vorantreiben. Anfangs lebt das ehemalige Wunderkind Jenny in einer christlich-therapeutischen Wohngemeinschaft. Kraus hat ein Ensemble aus wunderbar kaputten Figuren zusammengestellt.
Nach 15 Jahren Knast zurück in einer künstlichen Medienwelt
Jenny will dieser Welt entkommen. Sie lernt einen jungen syrischen Musiker kennen, die beiden verlieben sich und durch ihn und durch die Musik findet sie zur Musik und ins Leben zurück. Doch das Leben hat sich in den letzten 15 Jahren stark verändert. Die Welt ist zwei-geteilt und über das Analoge, Haptische, möglicherweise Echte, Natürliche hat sich das Digitale gelegt: Eine gekünstelte Medienwelt mit ganz eigenen Regeln und Gesetzen.
Boshafte Medienkritik von Chris Kraus
Albert Schuch spielt Jennys Gegenspieler namens Gimmiemore, einen Showmaster und Host einer trashigen Fernsehshow. In der sehr witzigen, sarkastisch-bitteren Darstellung dieser Show übt Chris Kraus auch boshafte Medienkritik. Das ist zwar wenig neu, und die Wirklichkeit ist so absurd, dass man sie kaum mit Kritik überbieten kann. Trotzdem ist die Kritik so notwendig wie überzeugend. In ihm erkennt Jenny einen Menschen aus ihrer Vergangenheit wieder – und nun wandelt sich das Melodram mehr und mehr in eine Rachegeschichte voller moralischer Untiefen.
Achterbahnfahrt der Gefühle und Szenen
Chris Kraus hat mit „15 Jahre“ keine direkte Fortsetzung des Vorläuferfilms gedreht, sondern ein ganz eigenständiges Werk, das alles will, und viel erreicht: Eine Achterbahnfahrt der Gefühle und Szenen, die kraftvoll ist und emotional zwingend, gelegentlich tief, auch manchmal kitschig, aber immer unterhaltend. Wer sie vor fast 17 Jahren im Kino gesehen hat, kann sie nicht vergessen haben: Jenny, die Hauptfigur von „Vier Minuten“ und ihre Darstellerin Hannah Herzsprung.
Hannah Herzsprung macht den Film unbedingt sehenswert
Noch mehr als der Vorgänger ist „15 Jahre“ Hannah Herzsprungs Film. Sie hält diesen Film zusammen, sie verknüpft – natürlich auch, weil sie einen bipolaren, zwischen Manie und Depression schwankenden Charakter spielt – durch ihre Energie, ihre Ausstrahlung und ihr Können, die vielen Pole und losen Enden dieses Films. Allein schon wegen Hannah Herzsprung, aber auch um ihrer Mitspieler wie um der sehr besonderen Filmmusik willen, sollte man „15 Jahre“ nicht versäumen.
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