Am 9. November 1989 fiel die Mauer. 35 Jahre später spielt die Frage nach kultureller Einheit und Zugehörigkeit weiterhin eine zentrale Rolle und ist unmittelbar mit den Erinnerungen an ein geteiltes Land verbunden. Der Schauspieler, Autor und Regisseur Thomas Wendrich fragt, wie sich der kulturelle Gedächtnisraum der DDR entwickelt, welche Perspektiven es gibt und was noch unerzählt ist.
Die DDR war mehr als nur ein Unrechtsstaat
In den Filmen sei es jahrzehntelang immer nur um das Thema gegangen, was die Stasi Böses getan habe, so Wendrich. Er gehört zu den Autoren des Sammelbandes „Diktatur und Utopie – Wie erzählen wir die DDR?“, der kürzlich in der Reihe „Neue Rundschau“ im S. Fischer Verlag erschienen ist.
Es fehlten die „Freuden und die Lieben, die es in der DDR natürlich auch gab“. Ostalgische Komödien hält er meistens für undifferenziert, dennoch seien sie ein Lichtblick. Für einen Menschen, der in der DDR aufgewachsen sei, böten die bisherigen Filme zu wenig Anknüpfungspunkte an die erlebte Realität, Wendrich nennt sie deshalb langweilig.
Möglichkeiten, differenzierter über die DDR zu erzählen
Bei seinen Filmen nach dem Mauerfall machte Wendrich die Erfahrung, dass sie sich besser verkaufen ließen, wenn sie die DDR-Vergangenheit möglichst negativ zeichneten, zumindest aus westdeutscher Perspektive.
Ein Gegenbeispiel sei der Film „Lieber Thomas“ von Andreas Kleinert. Thomas Wendrich schrieb das Drehbuch für die Filmbiografie über den Lyriker Thomas Brasch. Dieser weigerte sich zeitlebens, in Schubladen gesteckt zu werden.
Brasch habe nicht nur in der DDR angeeckt, erzählt Wendrich, sondern auch nach seiner Auswanderung in der Bundesrepublik. Damit sei er dem Narrativ entschlüpft, sich auf Klischees festlegen zu lassen.
Brasch sei für ihn eine Person gewesen, die man als DDR-Persönlichkeit sehr differenziert porträtieren könne. Wendrich wollte ihn nicht auf die politische Verfolgung reduzieren. Er zeigte auch die persönlichen Ängste und das Privatleben des Schriftstellers.
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