Enno Poppe hat mit seinem Speicher-Zyklus ein Meisterwerk hingelegt. Der Applaus wogte gestern Abend durch den Mozart Saal, immer wieder muss Poppe auf seinen langen Beinen vor das Dirigentenpult zurückstaken, wo noch seine marionettenhaften Armschlenkern ein 70-minütiges Stück angeleitet hatten.
Wie an Fäden geknotet, zuckten seine Gelenke zu Taktschwüngen in die Höhe, dass es eine Freude war zuzuschauen, und noch kaum habe ich jemanden mit solcher Prägnanz und Leichtigkeit Musiker wie Publikum durch ein Stück Neuer Musik manövrieren sehen.
Plastisch und lebendig
Das Klangforum spielte atemberaubend auf, unter Hochspannung und mit echter Beteiligung, als hätten ein jeder von ihnen gleichermaßen Teil an der kompositorischen Arbeit. Welch Kontrast zur gestrigen Zangengeburt von Bernhard Lang! In Speicher sah man die Musiker von jeder Form der Notenhörigkeit befreit das einzulösen, was eine echte Interpretation verlangt: Ein Werk plastisch, ja lebendig werden zu lassen.
Ein Spiel der Verwandlung
Poppe ist gelungen, was man sich von den diesjährigen Musiktagen erhofft hat. Er hat ein langes, großes Werk geschrieben, das nicht auseinanderfällt. Ein Werk, dem der Hörer gespannt folgen kann, weil er die musikalischen Elemente wiedererkennt und das Spiel ihrer Verwandlungen mitmachen kann, weil er mit den Spannungsverläufen erst vertraut gemacht wird, bevor sie ihn mit unvorhersehbaren Wendungen überraschen, weil er mit einer Vielfalt von Tongestalten und Atmosphären konfrontiert wird, die sich ihm als eine Einheit präsentieren – nicht dass erkenntlich geworden wäre, wie sie alle aus demselben Prinzip abgeleitet wurden, sondern lediglich, dass ihre Differenzen nachvollziehbar ineinander vermittelt sind.
Immer neuen Konstellationen
Die einzelnen Klangeinheiten fügen sich im Verlauf des Stückes zu immer neuen Konstellationen, die in ein Spiel treten, make up the rules as you go along – Vorbereitungen, Auftakte, Überleitungen, Gegensätze, Melodieergänzungen, Begleitschichten und Solokaskaden sind solche Übergangsgefüge, in die sich die Ausgangsfiguren eingesogen werden, um noch bevor eine Spielform ausgereizt wäre, aus ihm herausspringen und in ein neues überzugehen. Das erinnert an George Perecs Poetik der kleinen Momente – etwa La Vie mode d‘emploi, das ganz wie Poppes Werk sechs Teile in sechs sechsteilige Teile gliedert etc. Ein Speicher, ein strukturiertes Ganzes, das aber innerlich vibriert, und aus dem ganz unverhofft so innige Miniaturen hervorspringen, wie jene unvergesslich einsame Bratsche im dritten Speicher.
Stimmungsvoll und vielfältig
Enno Poppe arbeitet mit den konkreten Klanggestalten, mit den hörbaren Figuren und nicht im Abstrakten; das ist wohl der entscheidende Grund weshalb sein Werk zugleich das klarste und komplexeste, zugleich das virtuoseste und das stimmungsvollste, in einem das vielfältigste und doch stringenteste war, das wir bisher an diesen Musiktagen gehört haben. Eine ganz tiefe Verbeugung vor diesem Großmeister des Kleinen!