Donaueschinger Musiktage 2013

Formlose Formen

Stand

Bastian Zimmermann und Christoph Haffter schreiben über ihre ganz persönlichen Eindrücke von den Donaueschinger Musiktagen. Ihre Texte geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Große, lange Formen – das Eröffnungskonzert hat gestern gezeigt, dass das Motto dieser Musiktage kein Witz war. Walter Zimmermann, aber vor allem Bernhard Lang haben mit der Größe ernst gemacht und auch einen entsprechenden Klangkörper auffahren lassen. Was erst einmal Grössenwahn andeutet, ist allem voran sehr mutig, denn wer sich so weit aufbläst, bietet viel Angriffsfläche. Vor allem eine Frage stellt sich dann sofort: Ist das alles, was du aus dieser Wahnsinnsmaschine rausholst?

Walter Zimmermann sieht sich von dieser Frage nicht bedrängt, wie es sich dem Interview mit Armin Köhler entnehmen lässt. Es sei ja gerade seine ästhetische Position, das Filigrane, fein Durchdachte anstelle des ideologieverdächtigen Pomps zu suchen, selbst wenn er große Formen und Apparate gestaltet. Diese altbackene Gleichsetzung von Expressivität und Propaganda sei ihm verziehen, doch wer einige Minuten seines sechsteiligen Suave Mari Magno – Clinamen I-VI verfolgt hat, weiß, dass hier eine ganz eigene Ideologie herrscht, vielleicht eine, die viel mit jenem Denker zu tun hat, der für das Stück Pate steht: Es herrscht eine Indifferenz, wie sie Epikur sich nicht hätte wünschen können. Das Stück kennt über weite Teile keine dynamische Entwicklung, die wohl als Kanon konstruierten Kurzfiguren kenne nur eine Lautstärke – vielleicht filigranes mezzopiano – und so trägt das Ganze eine Zögerlichkeit, eine Richtungslosigkeit, eine Ungelenkheit zur Schau, die selbst das Schillern der engen Akkordik nicht zu verzaubern mag.

Manche Stücke müsse man mehrfach hören

Ulrich Mosch hat in seinem Programmhefttext zurecht darauf hingewiesen, dass man zwischen der geschriebenen Form, die sich in der Partitur analysieren lässt, und der hörend vernommenen Form einer Musik unterscheiden muss. Dabei sei es jedoch klar, dass sich komplexe Formen nicht auf Anhieb hörend nachvollziehen lassen. Man müsse manche Stücke eben mehrfach hören um überhaupt erst ihre Gestalt zu erfassen. Das scheint zuerst als Kompliment an jene unausschöpfbaren Stücke gedacht, aber es heißt auch, dass diese Stücke nicht für den Konzertsaal taugen, ihr eigentlicher Ort ist die beliebig reproduzierbare Aufnahme. Walter Zimmermanns Kanonstrukturen sind in dieser Weise unübersichtlich und hielten vielleicht noch jahrzehntelangen Hörerkundungen stand, aber im Konzert erlebt man diese Komposition einfach über weite Strecken als differenzloses Stottern, vielleicht mal Wabern, bestenfalls als Teppich. Daran ändert auch die Verteilung der Musiker in sechs Gruppen nichts, die das Publikum sozusagen umfassen – selbst diese räumliche Projektion der sechs kanonischen Stimmen macht die Strukturen nicht transparent, geschweige denn die Banalität des kanonischen Motivs, dass in Momenten an die alptraumhafte Umkehrung eines Kinderlieds erinnert.

Das Moment des Zufalls

Erst in der radikalen Reduktion, etwa wenn im zweiten Satz alle sechs Gruppen nur den Tonraum einer kleinen Sekunde bespielen, entfaltet sich eine spannende Hörstruktur, erst in dieser Einfachheit wird die Verwobenheit und die Bewegung zwischen den Gruppen erfahrbar. Zimmermann wählte sich das Clinamen zum Leitbild seiner Komposition; das Moment des Zufalls, der minimalen Abweichung von der geordneten Bewegung, das die epikureische Theorie braucht, um der Freiheit des Denkens und der Spontaneität des Lebens Raum zu geben, in ihrem durch und durch regelgeleiteten Bild der Welt. Geschähe alles den Regeln gemäß, so bliebe alles unbewegt an seinem rechten Platze. Erst weil ab und zu etwas nicht gerade fällt, sich von Zeit zu Zeit selbst zwei Parallelen berühren und die Ordnung verwirbeln, ist unsere Welt in lebendiger Bewegung.

Alles Abweichung?

Bei Zimmermann hingegen ist scheinbar alles Abweichung! Doch das Clinamen ist ein genetisches Prinzip: Es erklärt die Entstehung der Formen, aber beschreibt in keiner Weise deren erfahrbare Gestalt. Wenn Komponisten von Form sprechen geht es vielfach um genau solche genetischen Prinzipien, um die Regeln der Formung. Sie haben aber mit der erscheinenden Form eines Werks mit der erfahrbaren Gliederung in Abschnitte, in Spannungsbögen und Instrumentengruppen letztlich nichts zu tun. Genausowenig sind sie mit jener funktionellen Differenzierung gleichzusetzen, von der Ulrich Mosch spricht und die auf so etwas wie die Grammatik eines Werks abzielt, die Signalwirkung von Instrumenten, die Verarbeitung von Motiven, die Beziehung von Akkorden etc.

Intransparenz der Konstruktionen

Im Schlusssatz versucht Zimmermann die Intransparenz seiner Konstruktionen mit einer verzweifelten Geste wieder wettzumachen, indem er nicht nur die Musiker sprechen lässt: Hört ihr nicht das Rad der Zeit – also seinen im Kreis umgehenden Kanon – und Glück hatte er, dass niemand ehrlich antworten wollte. Da auch dieser Anruf nichts half, versuchte er mit letzter Deutlichkeit zumindest einen Trommelschlag ums Publikum wirbeln zu lassen: Aber nicht einmal das funktioniert richtig und man sehnt sich nach der Klarheit und sicheren Gestaltungskraft eines Iannis Xenakis, wie er in Pleiades die sechs Gruppen bespielt oder in den Retour-Windungen die Klänge ums Publikum jagen lässt; was hätte er mit einer solchen Anlage anzufangen gewusst!

Ein überwältigender Anfang

Auch Bernhard Langs 13. Monadologie bezieht ihre Einheit aus dem Prinzip ihrer Hervorbringung, aus den Regeln, nach der sie geformt wurde, aber keineswegs aus der Form, als welche sie erscheint: Eine völlig maßlose, ausufernde Dekonstruktion der ersten Symphonie Bruckners. Immerhin: An Radikalität fehlt es diesem Stück nicht, was nach der epikureischen Mittelmäßigkeit Zimmermanns geradezu eine Wohltat ist: Ein überwältigender Anfang mit kleingliedrigen Wiederholungen der zwei um einen Viertelton verschobenen Orchester, die im Saal einander gegenüber aufgestellt waren. Ein Klangerlebnis, wie ich es noch nie hatte: Das ganze Orchester ist seltsam virtualisiert, in einen unwirklichen Raum gehoben, als hätte sich die Zusammensetzung der Atmosphäre schlagartig verändert.

Vertrackten Rhythmen der Partitur

In den besten Momenten gelingt es Lang das aufbäumende Pathos oder die süß-schmerzenden Melodiefragmente der gesprengten Brucknersymphonie hervorscheinen zu lassen um sie dann, vor dem Publikum sozusagen aufzubrechen und in neue, in sich stockende Gestalten zu verwandeln, in denen etwas von der Energie weiterwirkt, die sie in ihrer ursprünglichen Form besaßen. Über weite Teil gelingt das jedoch nicht, was wohl vor allem an der praktischen Unspielbarkeit des Stücks liegt. Man hatte ja schon gehört, dass es in den Proben zu Spannungen gekommen sei und nun weiß man auch wieso: Die Musiker des SWR Sinfonieorchesters waren derart damit beschäftigt, einigermaßen den vertrackten Rhythmen der Partitur zu folgen – und weil unglaublich viel unisono gesetzt ist, konnten sie auch nicht einfach pfuschen – dass wohl keiner von ihnen noch den Kopf hatte, irgendetwas zu gestalten.

Beziehung zwischen Orchesterteilen bleibt unklar

Lang verstand es nicht, seine Dekomposition so zu instrumentieren, dass die Musiker das Material präzise und überzeugend hätten darbieten können, was im Werk angelegt ist. Auch die Beziehung zwischen den beiden Orchesterteilen bleibt erstaunlich unklar, meist verstimmt unisono gedacht, waren sie nie zusammen aber auch nie richtig auseinander, und nach der ersten Überwältigung erweist sich diese gigantische Anlage doch letztlich als Effekthascherei, die völlig unausgestaltet bleibt. In dieser Form kann man das Stück nur grob und monoton herunterspielen. Ein Orchester ist keine Filmspur, die sich schneiden und montieren ließe. So hingen zuletzt alle, im Publikum wie auf der Bühne, in ihren Stühlen, hielten in völliger Ermattung den tosenden Brei aus, der sich über sie ergoss und hofften auf das Ende, die Ohren wie Matsch, ein Tanz mit eingeschlafenen Füssen.
Aber man muss dem Stück zu Gute halten, dass mir der Abend unvergesslich bleiben wird, und das ist schonmal nicht zu verachten.

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Autor/in
SWR