Wie auch in den letzten Jahren, beherbergt das obligatorische Jazzkonzert am Samstagabend auch dieses Mal ein Sprengungs- oder Befreiungspotential für die Donaueschinger Zeit. Weg mit den Partituren, die Bühne als Schauplatz direkter künstlerischer Prozesse.
Diese Tatsache kann man zunächst einmal dem ganzen Genre oder Arbeitsfeld der "Freien Improvisation" attestieren. Wer aber gestern Shelley Hirsch zusammen mit dem deutschen Trio Koch/Schütz/Studer erleben durfte, muss sich wahrscheinlich noch einmal ein paar Unterklassifikationen überlegen, möglichst viele Stufen und Hierarchien, die klar machen, wie weit entfernt die vier Musiker vom Gros der Anderen sind.
Ideen aufzugreifen und weiterzuentwickeln
Hirsch, die das Quartett als Ideengeber anführte, gelang es auf der Bühne - und das kommt tatsächlich selten vor - ihre, oft wohl irgendwo aus dem halbbewussten, hervorplatzenden Ideen selbst aufzugreifen, weiterzuentwickeln, und das instantan mit den anderen drei Musikern. Nichts wurde verschont: Deutsche Floskeln wie "Heute habe ich schon was gelernt" wurden in die Improvisationen eingesponnen, gingen über in Oldschool-Hiphop, Hirsch legte Listen mit deutschen Begriffen an, die sie im selben Moment vortrug, imitierte Highschool-Mädchen.
Zum Schluss rockten sie noch einmal los
Die Musiker Hans Koch an der Bassklarinette, Saxofon und Laptop, Martin Schütz am Cello und Laptop und der Schlagzeuger Fredy Studer brillierten durch ihr kongeniales Zuarbeiten dieser Ausnahmesängerin. Zum Schluss rockten sie noch einmal los, Hirsch konstatierte, dass nur noch sieben Minuten zu spielen seien, der Bass setzte an, das Schlagzeug drückt die Stöcke durch und wuummmm...! Ein Wunder, dass Shelley Hirsch schon 61 Jahre alt ist.
Einfach guter Jazz
Das Sextett von Tobias Delius hingegen bot, musikalisch gesehen, einfach guten Jazz. Es fiel aber dadurch auf, dass eine Köchin namens Ciska Jansens mit auf der Bühne platziert wurde, die ein fünfgängiges indonesisches Gericht zeitgleich zur Performance fertigte. Matthew Herbert gelang genau dieses Dispositiv letzte Jahr während der Tournee zu "One Pig", bei der ein Koch, immer aus der Region des Konzertabends, Filets und Bratwürste auf der Bühne in die Pfanne warf, deren Sounds dann schließlich direkt weiter verarbeitet wurden.
Zum Schluss wurde das Publikum verköstigt
Herbert vollzog also die Ambivalenz im Umgang mit Schweinen direkt auf der Bühne, bei Delius war es nun die Kochaktion an sich, denn musikalisch brachte die Szenerie nicht viel ein. Es kamen Stimmen auf wie, da spielen fünf weiße Musiker und die lassen sich einfach jedes Konzert von einer indonesischen Frau bekochen (Achtung: Sie ist Belgierin!). Angekündigt wurde Delius damit, dass er das Leben auf die Bühne holen will. Und irgendwie - man muss wohl diese nicht sehr geradlinige, verschrobene Free-Jazz-Manier mögen - hat es für mich funktioniert, nicht musikalisch, aber als Happening, das einfach mal zu machen, das zu behaupten, es hinzustellen, weil man irgendwie verspürt hatte, da kommt eine Spannung auf, das müssen wir mal ausprobieren.
Improvisation und Happening
Die eigentliche Entwicklung findet bei Improvisationsmusikern oft auf der Bühne statt: Man setzt sich immer neuen Konstellationen an Musikern und Künstlern, Orten und Situationen aus und man schaut, wie man darin zurechtkommt, nicht mit dem Ziel, dass es am Ende geschmiert läuft, eher dass man diese Spannung, die Ambivalenz oder Differenz, die sich dort auftut, austrägt. Das äußerste Extrem des Abends: Links außen der junge, extrovertierte und narzisstische Schlagzeuger Christian Lillinger, bei dem jeder Schlag auf sein Zeug ein Drama in sich bedeutete, das Publikum amüsierte sich offensichtlich darüber. Und rechts außen die Köchin Jansen, etwas unbedarft Klänge mit der Rührschüssel produzierend und ein indonesisches Liedchen trällernd.
Zwei Welten, die sich in ihrer Gegenläufigkeit kaum miteinander vereinbaren lassen, die man vielleicht auch beide für sich gar nicht will. Und trotzdem waren sie da und triggerten das kulturelle Selbstverständnis jedes einzelnen im Saal an.
Also, Hut ab, auf diesen Abend. Danke Shelley Hirsch und Tobias Dibelius!