Gebannt und erwartungsvoll blickte Ende 1945 die Weltöffentlichkeit nach Nürnberg. In der Stadt, in der Hitler seine Reichsparteitage abgehalten hatte, sollten die wichtigsten überlebenden Repräsentanten des Naziregimes zur Rechenschaft gezogen werden. Auf der Anklagebank saßen Männer wie Göring oder Ribbentrop, die für grauenhafte Verbrechen verantwortlich waren.
Zeitungen, Agenturen und Radiosender aus der ganzen Welt schickten ihre besten Leute, um über den Prozess zu berichten, der den Grundsätzen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verpflichtet sein sollte und der fast ein Jahr – vom November 1945 bis Oktober 1946 – dauerte. So kamen in Nürnberg bekannte Journalisten und weltberühmte Schriftsteller zusammen, unter ihnen Erika Mann, Erich Kästner, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Rebecca West, Janet Flanner und Martha Gellhorn.
Weltliteratur traf auf Weltgeschichte, formuliert Uwe Neumahr in seinem eindrücklichen Buch, das nachzeichnet, wie die prominenten Beobachter den Prozess erlebt haben und wie sie während der Nürnberger Monate einander begegneten. Exilanten trafen auf Vertreter der inneren Emigration, Frontberichterstatter auf Starreporter, Kommunisten auf Angestellte der westlichen Medienindustrie.
Untergebracht waren die Korrespondenten im beschlagnahmten Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell. Man schlief beengt auf Feldbetten und versuchte in einem großen Arbeitsraum, in dem dutzende Schreibmaschinen gleichzeitig klapperten, Ruhe und Konzentration für das Schreiben zu finden.
Neumahr fängt die besondere Atmosphäre, die aufgeladene Stimmung und die hektische Suche nach exklusiven Stories präzise ein. Auf einem Bild ist festgehalten, wie die Journalisten nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal stürzen. Sie sind Konkurrenten und wollen als Erste am Überseetelefon sein. Nicht jeden Tag passiert allerdings Aufregendes, also werden Nachrichten – der höheren Auflage halber – erfunden.
Den Autor interessiert, wie Schriftsteller und Journalisten von dem Tribunal berichteten und versuchten, Worte für das Unfassbare zu finden beziehungsweise wie sie daran scheiterten. Kapitelweise widmet er sich jeweils einem der Reporter. Seine Porträts verschränkt er zumeist geschickt mit der Chronologie des Prozessgeschehens.
Neumahr schreibt mithin etwa über John Dos Passos, der die Deutschen mit erstaunlicher Nachsicht betrachtete, und zeichnet zugleich den Auftakt des Kriegsverbrecherprozesses mit der versöhnlichen Eröffnungsrede des amerikanischen Hauptanklagevertreters Jackson nach.
Dort, wo Neumahr tiefer in die Analyse der Berichte einsteigt, ist sein Buch am spannendsten zu lesen. Erich Kästner, der seine Reportage mit fiktionalen Elementen anreichert, attestiert er eine Flucht in die Distanzierung, weil der Schriftsteller "die Schwere des historischen Augenblicks nicht reflektierend einfangen kann". Kästner setzte die Vorgänge im Gericht mit einem Jahrmarktstreiben gleich. Neumahr analysiert: "Damit bedient er sich des schwarzen Humors, eines Lachens in unpassenden Situationen, das Sigmund Freud als kurzzeitige Lockerung einer Verdrängung definierte."
Mit den Augen der US-Journalistin Janet Flanner schaut der Autor auf das Kreuzverhör Görings durch den Hauptanklagevertreter Jackson. Neumahr kann an Flanner zeigen, wie der Prozess ihren Stil veränderte. Das Magazin "New Yorker", für das sie schrieb, forderte einen Verzicht auf Interpretation, die Leser sollten sich selbst ein Bild machen. Flanner hielt sich nicht daran, sie wertete und kommentierte, denn Neutralität war ihr angesichts der Schwere des Verhandelten nicht möglich.
Einige Porträts stehen eher für sich als dass durch sie zugleich ein helles, erkenntnisstiftendes Licht auf den Prozess fällt. Martha Gellhorn etwa, deren mutige Kriegsreportagen immer auch zornige Anklagen waren, schreibt über den Nürnberger Prozess ohne überraschende Einblicke und Erkenntnisse zu liefern. Neumahr kommt ihr Bericht gar vor wie eine "Pflichtübung".
Das Konzept des Buches, mittels singulärer Reportagen einzelne Etappen des Tribunals zu rekonstruieren, stößt hier an Grenzen. Lesenswert ist "Das Schloss der Schriftsteller" trotzdem und in seinen besten Passagen außerdem aufschlussreich und erkenntnisstiftend.
C. H. Beck Verlag, 304 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-406-79145-1