Buchkritik

Victor Santos – Fahrenheit 451

Stand
Autor/in
Silke Arning

Der Comic „Fahrenheit 451“ – die wertvolle Wiederentdeckung eines Klassikers.
Der spanische Comic-Künstler Víctor Santos hat den frühen Science-Fiction Roman von Ray Bradbury aus den 1950er Jahren in eine graphisch und inhaltlich spannende Version umgesetzt. Mit viel Gefühl für das Detail komponiert er Bilder und Farben und entwickelt eine hoch aktuelle Version einer Gesellschaft, die sich das kritische Denken abtrainiert, das Lesen verboten hat. Eine Feuerbrigade muss daher die heimlich versteckten Bücher ausfindig machen und verbrennen.

Homers „Odyssee”, Joseph Conrads „Herz der Finsternis”, „Alice im Wunderland” von Lewis Carroll – Geschichten, die die Welt in Atem gehalten haben. Nun liegen diese und viele andere Bücher auf dem Boden  – ein Scheiterhaufen der Kulturgeschichte zum Abfackeln bereit. Denn die Feuermänner stehen schon da - ihre Kerosinpistolen im Anschlag, um die Ordnung wiederherzustellen, um Schluss zu machen mit aufrührerischen, sehnsüchtigen, unabhängigen Worten. Als Guy Montag wenig später nach getaner Arbeit seine feuerfeste Uniform in den Spind räumt, ist er mit sich und der Welt zufrieden. Eine erfolgreiche Woche liegt hinter ihm.

Víctor Santos:
„Bradbury ist mehr ein Dichter als ein Science-Fiction-Autor“

Der Comic „Fahrenheit 451“ beginnt mit einer starken Szene, die den Albtraum einer postliterarischen Gesellschaft auf eine dramatische Weise sichtbar macht. Eigentlich sei er kein hardcore Science-Fiction-Leser, meint Víctor Santos, aber Ray Bradbury möge er besonders gern. „Er ist mehr ein Dichter als ein Science-Fiction-Autor“.

Víctor Santos:
„I am not a hardcore science-fiction reader. But this is one of my favorite books. So for me was a dream to do it. Bradbury - he is more a poet than a sci-fi-author.”

Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451” in einen Comic umzusetzen, war allerdings nicht ursprünglich Víctor Santos Idee. Der spanische Verlag planeta hatte den Künstler wegen seines besonderen Zeichenstils angefragt, der mit einer reduzierten Optik, mit starken grafischen Kontrasten und noir-Motiven arbeitet. In deutscher Übersetzung liegt bislang nur ein Werk von Víctor Santos vor: „Polar“ – ein actiongeladener Spionagethriller, eigentlich ein Web-Comic, der so erfolgreich war, dass er 2019 von netflix mit Superstar Mads Mikkelsen verfilmt wurde. Die Ästhetik von „Fahrenheit 451“ hat zwar Ähnlichkeiten mit dem „Polar“-Comic, doch Víctor Santos hat für seine Adaption des Klassikers eine ganz eigene, spannende, farbige Bildsprache entwickelt.

Eine eigenständige Comic-Version des Klassikers

Ray Bradburys Zukunftsszenario entstand 1953. Den Geist dieser Zeit hat der Comic-Künstler immer wieder durch einzelne Referenzen an Mode, Einrichtung und Architektur sichtbar gemacht. So sitzt der Feuermann Guy Montag in einer pastellfarbenen Küche, auf einer Party tragen die Frauen Swingkleider und nippen an ihrem Cocktailglas. Selbst das Cover, das eine sehr stilisierte Feuerbrigade zeigt, versprüht Retro-Charme und die Gebäude sind in der Regel funktional, groß und kantig.

Es sei denn die Feuerbrigade steuert auf das Haus einer alten Frau zu, die im Verdacht steht, Bücher zu besitzen. Es ist eine in die Jahre gekommene, verwitterte Villa aus Holz vor dem düsteren Hintergrund steil aufragender Betonklötze. Diesmal ist die Säuberungsaktion unerbittlich. Die alte Frau geht mitsamt ihrer Bibliothek in Flammen auf. Für seine Comic Adaption hat Víctor Santos Bradburys Dystopie nicht einfach nur bebildert. Er hat eine weitgehend eigenständige Version entwickelt:

Víctor Santos:
„I was more concerned about transmit the feeling and the emotion of the Story than using all the dialogs, all the descriptions of the story. For example, I never use the narration of Bradbury only the dialogues. Because I have this rule: if Bradbury is telling me something, I am going to draw it, to show it. I`m not going to copy and pace the text.”

„Mir ging es mehr darum, die Gefühle und Emotionen der Geschichte zu vermitteln, als alle Dialoge und Beschreibungen der Geschichte zu übernehmen. Ich verwende zum Beispiel nie Bradburys Erzählung, sondern nur die Dialoge. Denn ich habe diese Regel: Wenn Bradbury mir etwas erzählt, zeichne ich es, um es zu zeigen. Ich kopiere den Text nicht und füge ihn nicht einfach ein.“

In den 1950er Zeiten futuristisch, heute bereits Realität

Es ist nicht nur der grausame Tod der alten Dame, der die geordnete Welt des Feuermannes Guy Montag allmählich ins Wanken bringt. Vor seinem Haus begegnet er dem jungen Mädchen Clarisse, eine Nachbarin, die durch den Regen tanzt, die merkwürdige Gedanken äußert und ihn mit seltsamen Fragen irritiert –ob er glücklich sei, will sie wissen. Anders als die sehr lebendige Clarisse sitzt Guy Montags Frau Mildred wie ein Fernseh-Zombie daheim. Die Zimmerwand besteht aus einem einzigen riesigen Bildschirm und sehr zum Leidwesen Mildreds hat das Gehalt ihres Mannes bislang nur für drei Wände gereicht.

Als sie eines Tages eine Überdosis Tabletten nimmt, kommt eine Spezialeinheit zum schnellen Blutwechsel vorbei. Ein Standardeinsatz, Ärzte werden für solche Lappalien nicht mehr belästigt, erfährt Guy, was ihn fassungslos macht und in die Krise stürzt. Er fängt an, Bücher beiseitezuschaffen, zu lesen, die Schönheit der Gedichte zu feiern, was ihn aus der Sicht des Systems verdächtig macht. Víctor Santos hat in seine Bilder immer wieder hoch moderne Technik integriert. Zu Zeiten Ray Bradburys geradezu futuristisch, heute Alltag:

Víctor Santos:
“I could see all the elements of the social Media, the fake news. A lot of elements I even know when I read the novel seven years ago. But now they are my present. I feel Bradbury was talking about it and I try to add this new interpretation to the graphic novel. I think it fits perfectly.“

„Ich konnte alle Elemente der sozialen Medien und der Fake News erkennen. Viele Elemente kannte ich schon, als ich den Roman vor sieben Jahren las. Aber jetzt sind sie meine Gegenwart. Ich habe das Gefühl, Bradbury hat darüber gesprochen und ich versuche, diese neue Interpretation in den Graphic Novel einzubringen. Ich finde, es passt perfekt.”

Mahnung vor einer intellektuellen Gleichschaltung

Das Faszinierende an Bradburys Vision ist die Tatsache, dass die Menschen in seiner Geschichte selbst Literatur und kritisches Denken abgeschafft haben, um alle Bürgerinnen und Bürger auf ein gleiches intellektuelles Niveau zu bringen. Nun hat ein totalitärer Staat darüber zu wachen, dass dieser Standard und der allgemeine Seelenfrieden nicht gefährdet werden. Fatal, wie sich in Bradburys Roman aktuelle Trends wiederfinden: die Sehnsucht nach Vereinfachung, nach einer künstlichen Intelligenz, die Lern- und Denkarbeit erleichtert, nach Spaß und Ablenkung, verbunden mit einer zunehmenden inneren Leere.

Víctor Santos legt viel Wert auf die emotionalen Momente dieser Geschichte: er zoomt die Gesichter heran, arbeitet sehr gekonnt mit unterschiedlichen grafischen und farblichen Effekten und spielt sehr lebendig mit den Vignetten, den Bildrahmen, um die Charaktere noch stärker hervorzuheben oder zu kommentieren. Bradburys Klassiker „Fahrenheit 451“ auf diese spannende Weise wiederentdecken zu können, ist ein wertvolles Geschenk.

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Silke Arning