Buchkritik

John Wray – Unter Wölfen

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AUTOR/IN
Ulrich Rüdenauer

Drei Teenager Ende der 80er Jahre in Florida, drei unglückliche Helden, die sich in die extremsten Klänge der Zeit flüchten, in den Death Metal – John Wray erzählt in seinem neuen Roman „Unter Wölfen“ vom Abenteuer des Erwachsenwerdens und von der Musik, die Leben retten kann.

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Florida Ende der 80er Jahre: Kip, Kira und Leslie sind drei auf je eigene Art gebeutelte Kids, die sich zufällig in der Kleinstadt Venice begegnen – und feststellen, dass sie etwas verbindet: die Leidenschaft für eine neue und extreme Musik, die zu dieser Zeit direkt in ihrer Nachbarschaft entsteht: Black Metal. Megadeth, Anthrax, Slayer oder Hanoi Rocks heißen die einschlägigen Bands.

Dann setzte das Kreischen ein, und es hörte sich an, als versuchte jemand, auf einem brennenden Scheiterhaufen ein Kinderlied zu singen. Der Gesang klang wütend, ekstatisch, als litte jemand höllische Schmerzen – wissen konnte man das nicht, der Text ließ sich unmöglich verstehen. Wie ein Horrorfilm, dachte Kip, und das nicht bloß wegen des auf die Plattenhülle geairbrushten Zombies. Ihm wurde dieselbe reinigende Angst zuteil, dieselbe Katharsis, dieselbe Offenbarung wie durch einen Slasher-Film um Mitternacht: die Einsicht nämlich, dass nichts, aber auch rein gar nichts gut werden würde. Jetzt nicht. Später nicht. Nie. Und das ergab für ihn durchaus einen Sinn.
(John Wray – Unter Wölfen)

Der interessante Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein

Diese selbst ziemlich musikalische Beschreibung eigentlich unbeschreiblicher Musik stammt von dem amerikanisch-österreichischen Autor John Wray. Sein neuer Roman heißt „Unter Wölfen“. Wray beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit Charakteren, die in jenem labilen Schwebezustand zwischen Jugend und Erwachsensein ihren Weg finden müssen, angetrieben von Ängsten, Paranoia, Euphorie, Größenwahn und hormonellem Irrwitz.

John Wray:
Diese Phase, in der man eigentlich die eigene Identität zu gestalten anfängt, habe ich immer wahnsinnig spannend gefunden.“

Wir treffen John Wray in seinem Haus im Brooklyner Stadtteil Park Slope, gelegen in einer ruhigen Seitenstraße. Hier lebt er mit seiner Familie, umgeben von Büchern, Kinderspielzeug und Gitarren.

John Wray:
Für mich waren die letzten Teenagerjahre und Anfang 20 auch eine sehr, sehr glückliche Zeit und eine sehr spannende Zeit. Dieses Gefühl der Selbstbestimmung und der Autonomie Sachen für sich selbst entdecken, ästhetische Fragen (…), ja, dieses Gefühl der Selbstbestimmung und der Autonomie, das war einfach so unglaublich. Das war ein Abenteuer sondersgleichen, das erste echte Abenteuer meines Lebens. (…) Das bleibt nach wie vor spannend und wunderschön für mich. Natürlich ist es auch eine extrem beklemmende Zeit und eine oft sehr traumatische Zeit. Als Rohmaterial für einen Roman könnte man sich kaum etwas Besseres wünschen.“

Das Traumatische und das Abenteuerliche liegen eng beieinander

Das Traumatische und Abenteuerliche liegen in „Unter Wölfen“ tatsächlich eng beieinander: Kip ist gerade erst nach Venice zu seiner Großmutter gezogen – nicht freiwillig natürlich. Sein Vater sitzt im Gefängnis, seine Mutter treibt sich irgendwo herum und zeigt kein großes Interesse an ihrem Sohn.

Leslie, ein von jüdischen Adoptiveltern innig geliebter schwarzer Junge, bewegt sich als Fremdkörper durch die Welt – mit seinen Glamklamotten, seinem ausgefallenem Musikgeschmack fällt er auf, seine Homosexualität macht ihn angreifbar, sein Drogenkonsum tollkühn.

Und Kira, die dritte im Bunde, lebt bei einem Vater, der sie missbraucht. Sie flüchtet sich in immer drastischere Situationen, die Lust am Exzess ist bei ihr mindestens so ausgeprägt wie der Wunsch nach Selbstauslöschung.

Alle drei wollen etwas spüren, erleben, etwas Wahres und Echtes und Authentisches. Metal birgt all das in sich. Sie werden zu einer verschworenen Gemeinschaft, ziehen sogar zusammen nach Los Angeles, ins Mekka des Metal, wo sich verschiedene Szenen überschneiden. Nähebedürfnis und Abgrenzungszwang wechseln sich auf unheilvolle Weise ab. Kip und Kira lieben sich, aber diese Liebe hat etwas Zerstörerisches.

Das alles erzählt John Wray rasant, in einem lässigen, aber nie anbiedernden Ton, den Bernhard Robben ebenso lässig ins Deutsche gebracht hat. Musik spielt in diesem Roman nicht im Hintergrund. Sie grundiert das Leben, erdet es. Wray versucht nicht, cool über Musik zu sprechen, sondern lässt seinen Figuren den Vortritt. Sie wachsen in die Musik hinein und sinnieren darüber – nie klüger und nie blöder als es Jugendliche eben tun. Wray selbst hat viel gelesen und gehört, mit Heavy-Metal-Anhängern gesprochen und dabei eine gar nicht so verwunderliche Erkenntnis gewonnen:

John Wray:
Ich muss ehrlich sagen, die Heavy-Metal-Fans, mit denen ich zu tun gehabt habe, sind weitaus die liebsten, sanftesten, sympathischsten Menschen, die ich infolge meiner Arbeit kennengelernt habe.“

Tatsächlich klaffen äußere Erscheinung und innere Befindlichkeit selten so weit auseinander. Die Heavy-Metal-Kultur sei sehr bunt, sagt Wray.

John Wray:
Und für mich war das natürlich faszinierend und eine wirklich große Überraschung.“

Überraschend ist auch, welche Wendung der Roman nimmt. Von Florida über Kalifornien geht es im letzten Teil nämlich nach Norwegen, wo sich zu jener Zeit eine noch heftigere Spielart des Metal entwickelt: Black Metal. Kip und Kira reisen nach Europa, und Kira verschwindet irgendwann spurlos in der berüchtigten norwegischen Szene.

Der legendäre Osloer Plattenladen Helvete spielt dabei eine wichtige Rolle – und dessen Gründer Øystein Aarseth alias Euronymus, der zugleich Gitarrist der stilprägenden Band Mayhem war. Uralte Holzkirchen werden zu dieser Zeit angezündet, satanische Rituale sind ebenso beliebt wie Songs über die Pest. Der Tod ist in dieser Kultur allgegenwärtig: Es ist die radikalste Auflehnung, die sich in einer tief christlichen, spaßfeindlichen und restriktiven Gesellschaft denken lässt.

John Wray:
Als ich mit Metal-Fans gesprochen habe, also aus Florida stammend und dann aus Norwegen, weil ich war auch eine Zeit lang in Norwegen, habe ich immer wieder das Gleiche gehört: Also, wir haben nicht Heavy Metal gemacht, weil es so finster war im Winter. Oder weil die Wikinger aus Norwegen stammten. Oder weil wir alle Alkoholiker sind. Sondern weil es so extrem langweilig war als junger Mensch. Weil die Gesellschaft nichts für uns getan hat. Und weil alles so extrem homogen war. (…) Und das ist genau gleich gewesen in Norwegen, so wie in Florida, so wie überall. Die extremsten Jugendbewegungen entstehen immer dort, wo es am langweiligsten ist zu leben.“

Die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt

Wrays Roman entwickelt sich im Schlussteil zu einem Thriller, einer verzweifelten Suche nach Kira, aber auch nach einem Platz in der Welt. Kip ist vielleicht der Einzige der drei, der sich am Ende wirklich aus der gefährlichen Umklammerung der intensiven Überwältigungskunst in eine andere Sphäre der Kunst- und Weltwahrnehmung retten kann. Er fängt an, über Musik zu schreiben, wird zum Autor, der notgedrungen eine Distanz zu seinem Gegenstand einnehmen muss. Die Musik kann zwar Leben retten, aber manchmal muss man sich auch vor der Musik retten, indem man sie auf andere Weise betrachtet. Vielleicht erzählt John Wray, der Schriftsteller, der selbst als Jugendlicher dem Lauten und Chaotischen zugeneigt war, da auch ein wenig seine eigene Geschichte.

John Wray:
Man wird älter. Und so sehr man sich vielleicht dagegen wehren möchte, muss man diese Phase des Lebens irgendwie doch hinter sich lassen. (…) Man empfindet die Welt, die Liebe und auch die Musik nicht mehr mit einer solchen ungeheuren Intensität wie früher. Das ist natürlich einerseits eine leicht melancholische Tatsache, aber andererseits könnte man mit einer solchen Einstellung kaum überleben. (…) Glücklicherweise kann man sich immer noch daran erinnern und vielleicht sogar einen Roman darüber schreiben.“

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