Buchkritik

Tobi Dahmen – Columbusstraße

Stand
Autor/in
Silke Arning

Schon lange hatte der Illustrator Tobi Dahmen die Geschichte seiner Familie während des Nationalsozialismus erzählen wollen. Doch erst mit dem Tod des Vaters und dem Fund zahlreicher Briefe und Fotos entwickelte er sein Projekt „Columbusstraße“, das ihn acht Jahre lang beschäftigen sollte. Dabei hat er die sehr persönlichen Erinnerungen seiner Familie mit den tatsächlichen Ereignissen abgeglichen. Herausgekommen ist eine vielschichtige Annäherung von bestürzender Aktualität.

Columbusstraße 7 in Düsseldorf. In der hohen, schlanken Villa mit Erker und Fachwerkgiebel lebt Rechtsanwalt Karl Dahmen mit seiner Familie. Im imposanten Eckhaus schräg gegenüber: die Parteizentrale der NSDAP. Sehr zum Missfallen des Rechtsanwalts, einem überzeugten Katholiken und ehemaligen Mitglied der Zentrumspartei.

Es ist das Jahr 1935, vier Jahre später wird Karl Damen die unliebsamen Nachbarn aufsuchen, um seine Mitgliedschaft bei der Partei zu beantragen. Woher dieser Gesinnungswandel, mit welchen Parolen, welchen Versprechungen konnten die Nazis die Menschen erreichen?

Es sind gerade solche Fragen, die viele Jahrzehnte später den Enkel und Comiczeichner Tobi Dahmen bei der Erforschung seiner Familiengeschichte angetrieben haben:

Das ist keine Geschichte einer strammen Nazifamilie. Das glaube ich schon behaupten zu können. Aber eben eine Familie, die wie so viele so langsam immer weiter in diese Zahnräder dieses Regimes hineingezogen werden, weil alles andere mit großer großer Gefahr verbunden gewesen wäre.

Ein wertvoller Fund: Fotos und Briefe im Nachlass des Vaters

Tatsächlich hat der Druck auf den Großvater, der anfangs noch Regimegegner vertreten hat, stetig zugenommen. Als der Rechtsanwalt eine obdachlose Familie lautstark in der Öffentlichkeit verteidigt, wird er zur Gestapo vorgeladen. Man macht ihm klar, dass er auf der Liste und unter Beobachtung steht.

Als er schließlich seine Zulassung verliert, sieht er sein Heil darin, unter die Fittiche der Partei zu kriechen. Es ist eine Mischung aus Verzweiflung, Demütigung und Scham, die Tobi Dahmen seinem Großvater ins Gesicht gezeichnet hat.

Den Anstoß für diese eindrucksvolle Graphic Novel gab ein Verlust: der Tod seines Vaters, eines letzten Zeitzeugen. Auf einer längeren Zugfahrt habe dieser von seinen Erinnerungen an die NS-Zeit erzählt, meint Tobi Dahmen. Im Nachlass des Vaters entdeckte er dann eine große Schachtel, die ursprünglich für Unterwäsche gedacht war:

Da waren Briefe aus dem ersten Weltkrieg drin von meinem Großvater. Und da war so ein kleinerer Stoß mit Briefen meiner Onkels von der Ostfront. Dann dass da noch Fotoalben auftauchten. Da hat man wirklich gesehen, wie so ein Leben von fröhlichen Urlauben am Timmendorfer Strand und Kinderbildern bis zum Abitur schließlich in so einer Soldatenkarriere mündet, was seit 33 vorgegeben war. Das hat einen dann sehr betrübt, wie vorgegeben so ein Leben war und dann auch sein Ende gefunden hat.

Das „Mini-Universium“ Familie in der großen Weltgeschichte

Diese sehr persönlichen Momentaufnahmen hat Autor Tobi Dahmen zum Ausgangspunkt einer fundierten historischen Recherche gemacht, geht es ihm doch darum, „in einem Mini-Universum die große Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu erzählen“.

Und er macht das, indem er Wert selbst auf das kleinste Detail legt. Ein Beispiel: Der jüngste Sohn in der Columbusstraße, Karl-Leo, 1932 geboren und Vater des Comiczeichners, wird 1943 wegen der heftigen Bombenangriffe auf Düsseldorf nach Villingen aufs Land geschickt.

Er darf unbeschwerte Tage in der Natur erleben. In einem Brief an die Eltern berichtet er, dass er Heilkräuter sammeln war. Kein schlichter Zeitvertreib, denn ab 1938 musste jedes Schulkind pro Jahr zwei Kilo getrocknete Heilpflanzen abliefern für Wehrmacht und Sanitätswesen. Ein Erlass, der zeigt, wie das System alle Bereiche der Gesellschaft selbst auf unterster Ebene für sich zu nutzen wusste.

Ein umfangreiches Glossar am Ende der Graphic Novel klärt über all diese Zusammenhänge und viele andere Personen auf. Der Abgleich der Familienerzählungen mit der Realität war für Tobi Dahmen mit sehr ernüchternden Erkenntnissen verbunden:

Mein Großvater war sehr katholisch, sehr streng. Gleichzeitig war er Patriot, wie die meisten Leute, glaube ich. Und leider finden sich in einem Brief auch antisemitische Denkweisen, die ich dann auch wieder aus dem Alltagsrassismus wiedererkenne, der uns heute so begegnet. Ich glaube nicht, dass das so ein rassischer Antisemitismus war, sondern eher aus einem gläubigen Hintergrund. Aber natürlich findet man so was nicht schön. Aber ich wollte das auch nicht unter den Teppich kehren wie so viele das getan haben. Ich habe das dann in einen Dialog mit seinem Sohn eingebaut.

Die Konfrontation mit Flecken in der eigenen Familiengeschichte

Die Graphic Novel war schon auf dem Weg in den Druck, als Tobi Dahmen vom Stadtarchiv noch auf einen weiteren dunklen Fleck in der Familiengeschichte aufmerksam gemacht wurde.  Der Großonkel in Wesel, ein Arzt, hatte offensichtlich davon profitiert, dass er seine Praxis von einem jüdischen Kollegen übernehmen konnte.

Der Großvater wiederum hatte ein ähnliches Angebot ausgeschlagen. Judenverfolgung und Holocaust hat der Comic-Zeichner so in Szene gesetzt, wie sie für die Zeitgenossen damals sichtbar wurden. Und das war nicht zu übersehen, betont Tobi Dahmen:

Darüber hinaus waren die Pogrome in Düsseldorf so massiv. Das hat jeder mitbekommen. Und so habe ich halt die Reflektion eines zerstörten Spielzeugladens in einer Straßenbahnscheibe gezeichnet, die mein Großvater dann bemerkt. Das ist aber tatsächlich was, was jeder mitbekommen hat. Das Foto stand sogar in der Zeitung. Das Mantra nach dem Krieg war ja, wir haben von nichts gewusst. Aber wenn man sich das Maß der Zerstörung anschaut in Düsseldorf, dann kann man das nicht behaupten.

Tiefenschärfe auch in den Zeichnungen

Der Genauigkeit und der Tiefenschärfe bei den Fakten entspricht die zeichnerische Umsetzung in sehr detaillierten Bildern. Reale Dokumente – wie Briefe oder Einberufungsbescheide – sind wie Fotos in die Szenen integriert.

Viel Wert legt Tobi Dahmen auf die exakte Architektur der Städte und Plätze, die er als „Zeitzeugen aus Stein“ betrachtet. Alte Fotos und Straßenpläne wurden dabei zur Grundlage seiner Zeichnungen, die aus holzkohleartigen, grauen Strichen bestehen.

Nicht schwarz-weiß, aber mit ganz vielen Grautönen. Wir versuchen uns das immer so ganz eindeutig vorzustellen. Das waren die Nazis und die Mitläufer und das die Gruppe der Widerstandskämpfer. Aber es ist natürlich ein sehr viel diffuseres Bild.

Differenziert, packend – eine sehr bewegende Erinnerungsarbeit

Und genau das macht diese Graphic Novel so wertvoll: sie eröffnet viele Schauplätze, wechselnde Perspektiven und lässt Raum für eigene Schlussfolgerungen und Bewertungen. Immer wieder leuchtet Tobi Dahmen über die Briefe seiner Onkel auch die Geschehnisse an der Front und in den Lagern – in Russland, in Italien, in Nordafrika – aus.

Sein damals 11jähriger Vater wird im süddeutschen Villingen bei der Familie des Organisten Ewald Huth untergebracht, der das Unterdrückungssystem der Nazis öffentlich anprangert.

Allerheiligen 1944 wird er wegen Wehrkraftzersetzung auf der Stuttgarter Dornhalde erschossen. „Columbusstraße“ ist ein starker Beweis dafür, dass gerade (auch) ein Comic Erinnerungskultur sein kann – differenziert, packend und sehr berührend.

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