Eine Welt, in der Roboter menschlich werden
In einer nicht allzu weit entfernten Zukunft leben Menschen und Roboter Tür an Tür. Dank einer extrem leistungsstarken Künstlichen Intelligenz werden die Maschinen ihren Erfindern im Geiste immer ähnlicher, während ihre Körper den menschlichen bei Weitem überlegen sind.
Eigentlich sind die Roboter so programmiert, dass sie Menschen nicht verletzen können. Als es doch zum Mord eines Menschen kommt, schaltet sich die Polizei ein. Ein humanoider Europol-Ermittler namens „Gesicht“ übernimmt den Fall. Bald stellt sich heraus: Der Mord ist nur die Spitze des Eisbergs. Ein hasserfüllter Mega-Roboter stellt die friedliche Koexistenz auf die Probe.
Am 26. Oktober veröffentlicht Netflix die achtteilige Anime-Serie „Pluto“, basierend auf dem gleichnamigen Manga, den Naoki Urasawa zwischen 2003 und 2009 zeichnete und der 2010 erstmals in deutscher Sprache erschien.
Hommage an den „Gott des Manga“
Urasawa setzte damit dem „Gott des Manga“ ein Denkmal: Osamu Tezuka wird in Japan für seine Verdienste um die Entwicklung des Mangas genauso verehrt wie Walt Disney im Westen für den Zeichentrickfilm. Für Naoki Urasawa ist Osamu Tezukas Oeuvre eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen:
Eine von Tezukas beliebtesten Schöpfungen ist „Astro Boy“. Der Manga über die Abenteuer eines Roboterjungen mit menschlichen Gefühlen und übermenschlichen Kräften erschien 1952. Naoki Urasawa veröffentlichte mit „Pluto“ seine Hommage an diesen Klassiker und erzählt einen der beliebtesten Handlungsbögen des Originals aus Perspektive einer ursprünglichen Randfigur, der des Ermittlers Gesicht.
Doch das allein wäre für Urasawa nicht genug: Aus der vordergründigen Kriminalhandlung entfaltet sich in acht Bänden ein immer philosophischerer Exkurs über die Frage, was den Menschen zum Menschen macht, und was passiert, wenn Kriegswaffen eine Idee von menschlichem Gewissen entwickeln.
Ein moderner Frankenstein jagt einen Serienmörder
Die Frage, was Menschlichkeit ausmacht, beschäftigte Urasawa bereits in „Monster“ Es war sein erstes Werk, das auch internationale auf Beachtung stieß. Der Manga folgt Doktor Tenma, einem japanischen Hirnchirurgen im Westdeutschland der 1980er-Jahre, der einem Jungen das Leben rettet, der bei einem Attentat auf seine Adoptiveltern, hochrangige Systemflüchtige aus der DDR, schwer verletzt wird. Der Junge verschwindet spurlos aus dem Krankenhaus.
Jahre später, nach der Wende, findet Tenma heraus, dass dieser Junge selbst der Mörder seiner Zieheltern war. In Kinderheimen hinter dem Eisernen Vorhang wurde er zu einer gewissenlosen Killermaschine gedrillt und mordet nun als Phantomgestalt im Verborgenen weiter. Doktor Tenma beschließt, ihn aufzuhalten.
Mary Shelleys „Frankenstein“ habe ihn zu seinem Comic inspiriert, erzählt Urasawa im Interview mit dem Deutschlandfunk. Wie Frankenstein im Roman fühle sich der japanische Arzt im Manga für die Kreatur verantwortlich, die er auf die Menschheit losgelassen habe.
Über 18 Bände entwickelt Urasawa einen engmaschig gestrickten, überaus spannend erzählten Thriller, der von Düsseldorf über Heidelberg, Frankfurt und München schließlich nach Prag führt. Deutschland ist für ihn dabei weit mehr als nur ein pittoresker Schauplatz.
Er zeichnet ein durchaus glaubwürdiges Bild der deutschen Gesellschaft in den 1990er-Jahren: Ernüchterung nach der Wiedervereinigung, im verborgenen agierende Nazi-Funktionäre und DDR-Agenten sowie türkische Migranten, die sich gegen Attacken von Rechtsradikalen wehren müssen.
Seine Mangas lesen sich wie Hollywood-Filme
Die komplexen Storys inszeniert Urasawa mit seinem detaillierten Zeichnenstil unglaublich gekonnt: Seinen Protagonist*innen entlocken sein feiner Federstrich und sein Gespür für lebendige Mimik eine Ausdrucksvielfalt, die andere Mangaka nur durch Sprech- und Denkblasen erreichen.
Mit seiner lebendigen Panel-Anordnung schafft der meisterhafte Zeichner ein beeindruckend cineastisches Leseerlebnis. Ein Urasawa-Manga liest sich, wie sich ein Hollywood-Film schaut. Kein Wunder also, dass bereits seit rund zwanzig Jahren über eine Film-Adaption von „Monster“ gesprochen wird. Immer wieder steht Guillermo del Toro als möglicher Regisseur im Raum.
Gekonnter Mix aus Realismus und Fantastischem
Urasawas Mangas sind eine gekonnte Mischung aus Realismus und Fantastischem. Und so verwundert es nicht, dass sie besonders stark sind, wenn sie reale Ereignisse mit dem Übermenschlichen kombinieren.
So erschafft Urasawa seinem autobiografisch geprägten Opus Magnum „20th Century Boys“ eine Welt, in der eine Gruppe ehemaliger Grundschulfreunde entdeckt, dass ein Sektenführer mit telekinetischen Fähigkeiten die Superschurken-Spiele ihrer Kindertage in die Realität umzusetzen versucht.
Oder in „Billy Bat“, wo ein Comiczeichner feststellen muss, dass er unwissentlich das Symbol eines jahrtausendealten, weltumspannenden Geheimbundes zur Hauptfigur seiner Hefte macht. Wie vor ihm Jesus von Nazareth, Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald, Albert Einstein und Adolf Hitler wird der Zeichner in Urasawas Manga zum Empfänger prophetischer Visionen, die in den falschen Händen die Form eines disneyesken Medienimperiums annehmen.
Comicsalon Erlangen ehrte Urasawa für sein Lebenswerk
Auch Urasawas neuester Manga „Asadora“, der aktuell wie die meisten seiner anderen Werke im Carlsen-Verlag auf Deutsch erscheint, vermischt Historisches mit fantastischen Elementen. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Pilotin, die am Vorabend der Olympischen Spiele 1964 in Tokio versucht, das Land vor einem zerstörerischen Meeresungeheuer zu bewahren.
Den virtuosen Mix aus Unterhaltung und Komplexität, der den Werkkatalog des 63-Jährigen Manga-Zeichners durchzieht, lobte auch der Comicsalon Erlangen, als dort Naoki Urasawa im vergangenen Jahr mit dem Max-und-Moritz-Preis für sein Lebenswerk geehrt wurde. Es ist die jüngste von vielen großen internationalen Ehrungen, die Urasawa für seine Mangas erhalten hat, aber bestimmt nicht die letzte.