Was macht Jazz politisch, wie verwandelt sich das Ästhetische in Politik und das Politische in Ästhetik – und wie groß ist die Wirkung dieser Dimension des Jazz: All das versucht der Musikjournalist Peter Kemper in seiner monumentalen Studie „The Sound of Rebellion“ zu beantworten.
Vor gut sechzig Jahren, am 15. September 1963, verübte eine Terrorgruppe von weißen Suprematisten einen fürchterlichen Anschlag auf die 16th Street Baptist Church in Birmingham Alabama. Die Mitglieder des örtlichen Ku-Klux-Klan töteten mit ihrem Bombenattentat vier kleine Mädchen, viele weitere Menschen wurden verletzt.
Zwei Monate später nahm John Coltrane mit seinem klassischen Quartett den Song „Alabama“ auf, eine elegische, von tiefer Melancholie und zugleich würdevoller Kraft getragene Komposition, die von Coltranes Saxophon und Elvin Jones‘ Schlagzeug geprägt wird.
Jazz als Ausdruck emanzipatorischer, antirassistischer Bestrebungen
Im neuen Buch des renommierten Musikjournalisten, profunden Jazzkenners und verdienten Konzertveranstalters Peter Kemper kommt die Auseinandersetzung mit Coltranes „Alabama“ eine nicht unwichtige Bedeutung zu: Sie führt nämlich zum Kern dessen, was er in seinem Mammutwerk „The Sound of Rebellion. Zur politischen Ästhetik des Jazz“ mit vielerlei Beispielen, Geschichten und theoretischen Überlegungen zu behandeln sucht.
Es geht darin auf der einen Seite um die Frage, wie dem afroamerikanischen Jazz von Anfang an eine soziale Dimension zuwuchs: Jazz galt seit jeher als Ausdrucksmittel für emanzipatorische, antirassistische Bestrebungen – auch weil Diskriminierung eine tägliche Erfahrung für die Musikerinnen und Musiker darstellte.
Kemper interessiert sich auf der anderen Seite dafür, ob sich in den Sounds, im Klang, in der ins Offene weisenden Improvisation, im rauen, warmen, kreischenden Ton des Saxophons etwa, in radikalen Avantgardismen oder Rückbezügen auf den Blues jene behauptete politische Ebene auch musikalisch abbildet.
Es gibt jene, die sagen, Musik sei eine Sprache für sich, sie könne gar nicht auf Politisches rekurrieren. „Alabama“ ließe sich so auch als trauriges Liebeslied hören, wisse man nichts von seinem Kontext.
Mit Musik den sozialen Rahmen sprengen
Peter Kemper sieht das natürlich differenzierter. In der schwarzen Community wurde Musik als ästhetisches Phänomen immer schon in soziale Kontexte eingebettet; es gibt Signale und Zeichen, die gelesen werden müssen, die eine bestimmte Form der Wahrnehmung erfordern und herausfordern. Peter Kemper spricht von Gesten.
Diese grundsätzlichen Reflexionen stehen ganz am Ende des 750-Seiten starken Buches – aber alles, was davor kommt, führt zu diesen Überlegungen hin: Kempers umfangreiche und zugleich dichte Emanzipationsgeschichte, die entlang des Jazz geschrieben wird, ist nämlich zunächst eine faszinierende Erzählung von musikalischen Wegmarken, symptomatischen Episoden und legendären Musikern, deren Schaffen stets in einem sozialen Rahmen stattfand, den sie mit ihrer Kunst zu sprengen suchten.
Selbst bei einem bis heute als unpolitischer Entertainer geltenden Virtuosen wie Louis Armstrong entdeckt Kemper einschneidende Momente, an denen er sein Image als „Onkel Tom des Jazz“ aufbrach und konterkarierte.
Zitiert Kemper Louis Armstrong. Jazz sei für Satchmo immer auch die klangliche Verkörperung schwarzer Erfahrung in den USA gewesen. Oder wie Armstrong es ausdrückte:
Glänzend erzählt Kemper von Billie Holiday, die als harmlose Sängerin vermarktet werden sollte, aber selbst in ihren Liebesliedern und dann erst recht mit dem Song „Strange Fruit“ auf unhintergehbare Weise gegen männliche und rassistische Unterdrückung ansang.
Und Kemper erzählt, wie genau diese Formen von Repression sie am Ende – mit nur 44 Jahren – zu Tode bringen. Kemper schreibt über Miles Davis, der mit seiner coolen Arroganz den Spieß gesellschaftlicher Hierarchie umdrehen wollte; über den bilderstürmerischen Albert Ayler, über den wütenden Archie Shepp, der sein Saxophon in den 60ern als „Maschinengewehr des Vietkong“ verstand.
Er sucht mit Sun Ra in den weiten des Weltalls nach afrofuturistischen Befreiungspotentialen, begleitet Roland Kirk bei einem subversiven Fernsehauftritt, bei dem er eine größere Präsenz ernstzunehmender schwarzer Künstler in den Medien forderte, untersucht das Scheitern der Musikerselbstorganisation Jazz Composers Guild; zeigt uns, wie das Art Ensemble of Chicago mit Rückgriffen auf afrikanische Traditionen eine „Great Black Music“ propagierte, offenbart auch im Spiritualismus eines Pharoah Sanders und dem revolutionären Experimentiergeist eines Cecil Taylor politisches Potential.
Den alten Kampfgeist mit neuen musikalischen Mitteln beschwören
Und so geht es von Kapitel zu Kapitel in die Gegenwart, wo eine ganz neue Generation von afroamerikanischen Männern und vor allem auch Frauen den alten Geist des Kampfes mit neuen Mitteln beschwören, dabei eklektisch auf traditionellen Jazz, HipHop oder Funk zurückgreifen – man denke an Kamasi Washington, Matana Roberts, Moor Mother oder Angel Bat Dawid, die alle eng verbandelt sind mit der „Black Lives Matter“-Bewegung. Die einzelnen Fallstudien von Kempers Buch können, schreibt der Autor ganz zurecht, …
Diese Sozialgeschichte des Jazz und der Musik ist nicht nur meisterlich erzählt, sondern auch von umfassenden Recherchen und großem Einfühlungsvermögen geprägt. Und sie ist theoretisch auf Höhe der verhandelten Themen. Weil Kemper tief in die Problematiken des Themas eingedrungen ist, versäumt er es nicht, auch seine eigene Rolle als Chronist und Interpret zu hinterfragen: In einem „Nachwort in eigener Sache“ setzt er sich gewissenhaft mit damit auseinander, ob er als „alter weißer Mann“ über die in der schwarzen Musik ausgefochtenen Emanzipationskämpfe schreiben darf, ob das nicht anmaßend sei.
Seine Antworten wählt er sorgsam und abwägend; sie zeigen, dass er seinen Gegenstand ernst nimmt und ein Bewusstsein für mögliche Schieflagen hat, dass aber auch eine gewisse wissenschaftliche Distanz produktiv sein kann. Die beste Antwort gibt allerdings ein schwarzer Musiker selbst:
Wer den Segen von Archie Shepp hat, muss keinen woken Vorwurf fürchten.
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