SWR2 lesenswert Kritik

Ludwig Tieck – Wilde Geschichten

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AUTOR/IN
Wolfgang Schneider

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Ludwig Tieck lebte von 1773 bis 1853. Seine „Wilden Geschichten“ locken ins Unheimliche. Hier ist die Realität auf Treibsand gebaut. Diesem Band gelingt es, einen spannenden Autor aus den Kellern der Literaturgeschichte zu holen. Besser als manche Netflix-Serie.

Kiepenheuer & Witsch Verlag, 288 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-86971-277-2

Der 1773 geborene Ludwig Tieck zählt zu den bedeutendsten literarischen Vertretern der deutschen Romantik. Seine mit Wilhelm Wackenroder verfassten „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ gehören zu den Höhepunkten dieser Zeit. Jetzt ist eine Sammlung seiner frühen Erzählungen erschienen: „Wilde Geschichten“ - Wolfgang Schneider.

Ludwig Tieck war eine literarische Größe des 19. Jahrhunderts. Als junger Autor gehörte er zu den Begründern der Romantik. Mehr als fünf Jahrzehnte verfasste er in unermüdlicher Produktivität Gedichte, Dramen, Erzählungen und Romane. Nebenbei wurde er legendär als Übersetzer. Noch heute werden der „Don Quijote“ und die Stücke Shakespeares in seinen vortrefflichen Übertragungen gelesen.

Der Band „Wilde Geschichten“ bietet nun eine Sammlung mit überwiegend frühen Erzählungen. Staunend liest man diese zweihundert Jahre alten, aber kein bisschen angestaubten Geschichten. Sie verbinden genaue Beobachtung und subtile Psychologie mit dem Märchenhaften und Phantastischen. Ihre Wildheit ist abgründig – die Grenzen von Realität und Wahn werden unsicher, Gefühle und Stimmungen kippen, und die Welt sieht plötzlich erschreckend anders aus.

Exemplarisch zeigt das bereits die humoristische Geschichte „Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben“. Am ersten Tag reist Siegmund in eine entfernte Stadt, in der für ihn ein Karrieresprung ansteht. Er hat dort einen Posten als Rat beinahe sicher. Sein Übermut strahlt auf das ganze Städtchen ab. Lachende Mädchen, vergnügt aus der Fabrik heimkehrende Arbeiter, Freude und Idylle in allen Gassen.

Siegmund genießt den Abend und erheitert sich über die komödienhafte Szene, als er beobachtet, wie ein älterer Herr vergeblich Einlass im Haus einer attraktiven Dame sucht. Am nächsten Tag aber stellt sich heraus, dass der komische Alte, den er laut ausgelacht hat, der Präsident ist, der seine Einstellung zu bewilligen hat. Wie peinlich! Leider gebe es schon einen anderen Bewerber für den Job, wird ihm frostig mitgeteilt.

Siegmund krümmt sich vor Verlegenheit, und als er nun durch die Straßen geht, ist alles widrig und abstoßend. „O hätte ich nur meine gestrigen Empfindungen zurück!“, seufzt er. Das ganze Menschenleben erscheint ihm jetzt als Tumult der Narrheiten und als Rattenrennen des Opportunismus. Eitelkeit und Trug der Welt inszeniert der junge Tieck mit der philosophischen und erfahrungsseelenkundlichen Abgeklärtheit der späten Aufklärung.

Für den Perspektivismus und die Relativität der Wahrnehmung findet Tieck in der satirischen Geschichte „Der Naturfreund“ eine ungewöhnliche Form. Zwei Sichtweisen werden in zwei Spalten nebeneinander gestellt: Links erzählt ein verliebter Beamter von seinem Kuraufenthalt, rechts plaudert die kecke junge Frau, der seine Liebe gilt und die viele Dinge ganz anders erlebt als er. So sind zum Beispiel die Tränen, die er für Rührung hält, Tränen der Langeweile über seine Vorlese-Bemühungen.  

Wunderbar sprachmächtig sind Tiecks Naturbeschreibungen. Einerseits zeichnet er die Naturphänomene um 1800 bereits mit einem starken Sinn für ökologische Zusammenhänge, andererseits ist die Natur ein Spiegel menschlicher Stimmungen und unbewusster Bestrebungen. Euphorie und unbegreifliche Angstzustände scheinen sich in ihr zu vergegenwärtigen.

Landschaft wird auf moderne Weise zum symbolischen Seelenraum. Die Lockung führt ins Unheimliche und in die Zerstörung, so in den faszinierenden Märchennovellen „Der blonde Eckbert“, „Der Runenberg“ und „Die Elfen“, die noch heute zu Tiecks bekanntesten Werken zählen und in dieser Ausgabe nicht fehlen. Angst und Paranoia formen hier die Realität, die Figuren erleiden einen metaphysischen Schwindel, Selbsterfahrung endet im Selbstverlust.

Zum Reiz tragen auch die Zwischentexte der Herausgeber Jörg Bong und Roland Borgards bei, die wesentliche Motive herausstellen und wichtige Kontexte vermitteln. Dieser fabelhafte Band bietet die Gelegenheit zur Wiederentdeckung eines großartigen Autors, dessen Werke heute größtenteils schwer erhältlich sind. Bitte mehr davon!

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Wolfgang Schneider