Ein Klassiker in neuer Übersetzung: Julien Greens „Treibgut“ aus dem Jahr 1932. Ein Roman über eine am Abgrund stehende Vorkriegswelt – und einen Mann, der seine Homosexualität verleugnet. Nun in allen literarischen Nuancen wieder erlebbar durch die Neuübersetzung von Wolfgang Matz.
Es ist eine Zeit des Übergangs – am Horizont sieht man schon deutliche Anzeichen des drohenden Weltkriegs, und die vermeintlich heile Welt des Bürgertums zeigt gewaltige Risse. Paris in den frühen 30er Jahren, eine Epoche voller Ungewissheit: In seinem 1932 erstmals erschienenen Roman „Treibgut“ lässt Julien Green seinen Helden Philippe durch die Nacht und das Leben treiben, auf der Suche nach Abenteuern.
Über seinen eigenen Charakter macht sich Philippe keine allzu großen Illusionen. Er sieht den Nichtsnutz in sich, der „Leere seines Daseins“ ebenso ausgeliefert wie der unheilvoll keimenden Vermutung, zudem ein Feigling zu sein. In einem bezeichnenden Moment nämlich kommt ihm seine Existenz unverstellt zu Bewusstsein: Wie immer streift er am Abend durch die Straßen von Passy und zu den Quais der Seine; er beobachtet ein streitendes Arbeiterpaar und hört die Hilferufe der Frau.
Die pompös-porösen Kulissen der bourgeoisen Welt
Philippe wendet sich ab. Furcht und Trägheit sind stärker als Mitgefühl und Courage. Aber nicht nur hier ist er passiv: Ihm fehlt auch der Mut, seine eigene Frau Henriette zur Rede zu stellen. Sie betrügt ihn ausgerechnet mit einem Proletarier, der sie an ihre hinter sich gelassene Armut erinnert. Philippe, Henriette, die Schwägerin Éliane und der bemitleidenswerte Sohn Robert – das sind die Protagonisten eines traurigen Kammerspiels, eingezwängt in die pompös-porösen Kulissen der bourgeoisen Welt.
So alt wie Philippe – Anfang 30 – war Julien Green, als er seinen Roman „Treibgut“ veröffentlichte. In wunderbar schwebenden, widerstreitenden inneren Bewegungen lässt er seinen Helden durch ein so gegenwärtig wie verwunschen erscheinendes Paris flanieren. In dieser Vermischung einer mythischen und zeitgenössischen, symbolischen und realistischen Darstellung der Stadt erkennt der Übersetzer und Herausgeber Wolfgang Matz auch das Verstörende des Romans. So heißt es bei Green:
Von Wolfgang Matz wunderbar verstörend übersetzter Roman
Den Abgrund im Blick, von einer „verstörenden Vollkommenheit“ umgeben – und dazwischen verbirgt sich eine weitere Schicht dieses großartigen und von Wolfgang Matz wunderbar verstörend übersetzten Romans. In seinem Tagebuch notierte Julien Green, dass „Treibgut“ die Geschichte eines verheirateten Homosexuellen erzähle, der nichts von seiner Homosexualität wisse, ahnungslos leide. Die zeitgenössische Kritik erkannte diesen Aspekt nicht, obwohl es einige Anhaltspunkte gibt. Philippe ist ein Mann, der Körperkult betreibt, aber kein einziges Mal mit seiner Frau eine intime Situation erlebt. Die stillen und zugleich offensichtlichen Avancen seiner Schwägerin lässt er kühl an sich abprallen. Bei den nächtlichen Spaziergängen lauscht er dem Klang des Wassers, der ihn wegführt von der „monströsen Erregung der Städte“, die ihn anlockt und zugleich abstößt.
Ein unglücklich Gefangener in einem gesunden Körper
Die Einsamkeit ist total für den, der noch nicht einmal weiß, was ihm fehlt. Insofern ist der tatenlos-furchtsame Philippe nicht nur ein Vertreter der dem Untergang geweihten großbürgerlichen Welt, sondern auch der unglücklich Gefangene im Innern eines gesunden Körpers, dessen Begierden verborgen bleiben. Julien Green erzählt von dieser Zerrissenheit auf subtile, eindrucksvolle Weise.