Es war am Freitagnachmittag, nach der letzten Lesung von Kaska Bryla, als sich zwei Jurymitglieder wieder einmal uneins zeigten. Brigitte Schwens-Harrant hatte sehr elaboriert den von ihr eingeladenen Text verteidigt, eher in seiner ganzen diskursiven Vielgestaltigkeit erklärt, und Klaus Kastberger fand ihre Interpretation gar interessanter als den Text selbst.
Doch der nach Schwens-Harrant das Wort ergreifende Philipp Tingler beklagte Selbstbezüglichkeit und Immanenz des Textes, nannte Brylas Literatur altbacken, „obsolet“, „einen begleitenden Katalogtext.“ Das wiederum wollte Schwens-Harrant nicht auf sich sitzen lassen: „Das ist aber jetzt auch knapp behauptet, ohne einen Beleg.“
Tingler geriet danach argumentativ in die Bredouille - so wie Mara Delius kurz zuvor Schwierigkeiten hatte, das von ihr ausgemachte „Konservative" in Olivia Wenzels Text zu erklären, als die Autorin das noch einmal näher erläutert haben wollte.
48. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
Das Wortgefecht von Schwens-Harrant und Tingler stand bei diesem 48. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb stellvertretend für die Diskussionen innerhalb der Jury, gerade wenn die Einschätzungen der Texte höchst unterschiedlich ausfielen.
Die Juroren stellten dann häufig die Literatur- und Kritikbegriffe der jeweils anderen in Frage. Wenn jemand nur ein Geschmacksurteil abgab, wurden Argumente gefordert, wenn Mithu Sanyal von einem „originellen Text“ sprach, der sie „tief berührt“ habe, fragte der neben ihr sitzende Philipp Tingler sofort: „Warum?“.
Er wollte von der gern in Elke-Heidenreich-Manier überschwänglichen, emotionalen, stets mit ihren Händen herumfuchtelnden Mithu Sanyal literaturkritische Argumente hören, vor dem Hintergrund von Form und Sprache Urteile gefällt bekommen.
Und trotzdem: Auch der neue Juryvorsitzende Klaus Kastberger ließ es sich nicht nehmen, einen Text „langweilig“ zu nennen, wie den von Denis Pfabe. Oder er rief einfach mal so ins ORF-Studio:
Um einen Tag später das von ihm an dieser Stelle beklagte „Kindergartenniveau“ zu widerlegen, als er Henrik Szantos begeistert feierte:
Was aber wie in den beiden vergangenen Jahren auffiel: Die jeweiligen Literatur- und Kritikbegriffe sind mehr und mehr politisch eingefärbt. Ästhetische Kriterien werden dann schon mal zur Auslegungssache und hängen eng zusammen mit der politischen Haltung.
Lebendige Jurydiskussionen
Ja, Körperlichkeit, Empathie und Ethik haben Einzug gehalten bei der Bewertung von Texten. Mithu Sanyal ist dafür das herausragende Beispiel, das identifikatorische Lesen ist Teil ihrer Art von Literaturkritik. Was man problematisch finden kann, den Jurydiskussionen in Klagenfurt aber eine zusätzliche Lebendigkeit verleiht, gerade weil sich Philipp Tingler oder auch Mara Delius daran notorisch stoßen.
Offensichtlichste Antipoden deshalb in diesem Jahr: Mithu Sanyal und Philipp Tingler. Sanyal feierte Tijan Silas Text zum Beispiel auch deshalb, weil sie glaubte, dass dieser den deutschen Rassismus anprangert, was Tingler und andere nicht so sahen; und Tingler begegnete Sanyals Schwärmerei für Olivia Wenzels Text sofort damit, dass dieser mit „modischen Begriffen von Identitäten“ arbeite.
Um später, als die weibliche Erzählerin in Johanna Sebauers „Gurkerl“-Text sagt, sie sei kein Meinungsschreiber, und sich Sanyal nicht daran störte, ironisch triumphierend ausrief: „Mithu Sanyal hält ein flammendes Plädoyer für das generische Maskulinum.“
Gerade aber auch bei Wenzels Text, der in den sozialen Medien über die Maßen gefeiert wurde, taten sich die auch in der Literaturkritik entstandenen ideologischen Gräben auf. Delius und Tingler wollten einen reinen „Thesentext“ gelesen haben.
Mithu Sanyal und Laura de Weck bekamen sich nicht ein vor Begeisterung. Laura de Weck sprach gar von „Stolz“, diesen Text mitgebracht zu haben. Ähnliches passierte nach der Lesung von Miedya Mahmod, da Tingler und Delius versuchten, die Euphorie von Sanyal und Kastberger zu dämpfen und von „ästhetischen Überdehnungsübungen“ sprachen.
De Weck, die für die ausgeschiedene Juryvorsitzende Insa Wilke in die Jury nachrückte, war dann leider auch das blasseste Jurymitglied; in der Regel beurteilte sie die Texte danach, ob diese zeitgemäß seien oder aktuelle Themen aufgriffen. Viel mehr kam von ihr nicht; dass sie immer von „Traumas“ statt Traumata sprach und einer eindeutig psychiatrischen Krankheit wie der Schizophrenie mit dem Psychologen beikommen wollte: geschenkt.
Doch diese Blässe gehört womöglich zu einem Jury-Debüt dazu: Auch Mara Delius und Brigitte Schwens-Harrant wirkten bei ihren ersten Klagenfurter Jury-Auftritten unsicher und nervös. Jetzt sind sie angekommen. Sie ragten dieses Jahr heraus.
Sie argumentierten zumeist nahe am Text, ohne sich, wie der stets Textstellen suchende, findende und dann zitierende Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, darin zu verlieren.
Und Delius und Schwens-Harrant kamen ganz ohne den angeberischen Furor aus, der Klaus Kastberger und den ansonsten häufig richtig liegenden und auf den Punkt kommenden Philipp Tingler auszeichnet. Tingler immerhin gestand ein, auch ein bisschen ein Angeber zu sein.
Kastberger wiederum scheint sich ähnlich wie de Weck noch einfinden zu müssen in seine neue Rolle. Zu oft ging sein von Selbstgefälligkeit nicht ganz freies Temperament mit ihm durch, zu wenig versuchte er sich als Mittler seiner Mitstreiter, zu offensichtlich führte er immer mal wieder die Fußball-Europameisterschaft ins Diskursfeld.
Doch mochte man ihn nicht immer witzig finden, wenn er seine Baumarkt-Aversion zum besten gab oder gestand, mittags immer ein Gurkenglas in seinem Büro zu haben: Kastberger weiß am Ende nur zu genau, dass der Bachmann-Wettbewerb vor allem auch ein Fernsehformat ist und darin die unterhaltenden Momente nie fehlen dürfen.