Buchkritik

Ferdinand von Schirach – Nachmittage

Stand
Autor/in
Julia Schröder

Melancholie durchzieht die kurzen Prosatexte: In „Nachmittage“ setzt der Erfolgsautor Ferdinand von Schirach seine autobiografischen Erkundungen aus „Kaffee und Zigaretten“ fort. Er schreibt über das Reisen und eine verlorene Liebe, über Begegnungen und Kunsterlebnisse in Paris, New York, Pamplona und anderen erlesenen Settings.

Ferdinand von Schirach und das autofiktionale Erzählen

Ferdinand von Schirachs Erzählen hat von Anfang an mit dem Autofiktionalen gearbeitet, um nicht zu sagen, kokettiert. Ein Strafverteidiger als Autor hat in der Hinsicht viel zu bieten: Kriminalfälle, mit denen man so oder ähnlich in Berührung gekommen ist, als Inspiration anführen zu können, wirkt deutlich attraktiver als der Alltag in, sagen wir, einer Schule oder einer Behörde.

Am Schreibtisch des freien Schriftstellers ist von Schirach vor drei Jahren angekommen, mit seiner Prosasammlung „Kaffee und Zigaretten“, in der er reichlich autobiografisches Material verarbeitet hat.

Einige Kapitel umfassen kaum eine Seite

Dies setzt sich in seinem neuen Buch fort. Es heißt „Nachmittage“. Erneut versammelt der Autor in kurzen bis kürzesten Texten Erlebnisse, Beobachtungen und Einfälle aus seinem mittlerweile 58-jährigen Leben.

Einige der 26 durchnummerierten Kapitel des schmalen Buchs umfassen kaum eine Seite. Oft geht es um Kunsterlebnisse und Lesefrüchte, die Prägungen durch Giacometti oder Hemingway, Funde in Thomas Manns Tagebüchern oder die Todesarten von Isadora Duncan und Sergei Jessenin.

Erlesene Melancholie ist die vorherrschende Stimmung

In den längeren Texten erinnert sich der Erzähler an lang zurückliegende Reisen mit Freundinnen, Vorfälle während des Jurastudiums in Bonn, an Begegnungen und Wiederbegegnungen in Hamburg, Paris, New York, Pamplona, nicht selten in Bars internationaler Traditionshotels oder in den Gärten mediterraner Landsitze.

Dazwischen blitzt wie ein rotes Fädchen immer wieder die Reminiszenz an eine große, offenkundig verlorene Liebe auf. Es ist kein Zufall, dass in der ersten Geschichte F. Scott Fitzgeralds „Great Gatsby“ zitiert wird, genauer gesagt, die Auseinandersetzung um die Liebe einer Frau zwischen Tom Buchanan und Jay Gatsby in einer Suite des legendären New Yorker „Plaza“.

Denn im Foyer eben jenes „Plaza“ hat der Erzähler „sie“ das erste Mal gesehen. Es wird viel geraucht. Das Ambiente ist durchweg erlesen, und erlesene Melancholie ist die vorherrschende Stimmung.

„Und jetzt, nach sehr langer Zeit, gibt es manchmal Nachmittage, an denen ich nicht mehr in eine andere Richtung sehe, wenn ich an einem Café vorbeikomme, in dem wir zusammen waren.“

Lifestyle in Luxushotels und edlen Villen

Gehobenen Reisefeuilletonismus, das zeigt das Aufscheinen kaum überwundener Schmerzen, strebt Ferdinand von Schirach nicht an – obwohl sich beträchtlicher Distinktionsgewinn einstellt, wenn einer in Tokyo das Zimmer buchen kann, in dem „Lost in Translation“ gedreht wurde.

Oder Freunde hat, die ihm ihre edel heruntergekommene Hundert-Zimmer-Villa in Bassano del Grappa für einen Sommer als Schreibort überlassen, und zwischen Taipeh und Oslo von Interviewern und Lesepublikum belagert wird.

Andererseits kann Weltruhm auch ganz schön entfremdend sein.

„,Man ist angeblich der Ehrengast‘, sagte ich, ,aber in Wirklichkeit ist man der Hofnarr.‘“

Die Nonchalance wirkt etwas bemüht

Seine ausgesuchten Settings wählt der Autor mit etwas bemühter Nonchalance möglichst „off the beaten track“. In Marrakesch etwa bloß nicht zum Platz der Gehenkten, sondern gleich ins La Mamounia, von dem die Leser erfahren, es sei …

"… eines der angenehmsten Hotels auf dem afrikanischen Kontinent, 1922 von der staatlichen Eisenbahngesellschaft Marokkos gebaut, eine Mischung aus französischer und marokkanischer Architektur. Churchill malte es, du hielt es für den schönsten Ort der Welt, Roosevelt und de Gaulle übernachteten in diesem Hotel, Cameron Diáz, Tom Hanks und Gwyneth Paltrow sind regelmäßig Gäste.“

Wie Ferdinand von Schirach das Geschehen auflädt, indem er es in interessanten Kulissen verortet und mit ausgesuchten Requisiten garniert, dürfte nicht geringen Anteil am enormen Erfolg seiner Bücher haben. Ihre Anziehungskraft erschöpft sich darin natürlich nicht.

Von Schirach geht es um die Begegnung mit anderen Menschen

Schirach-Leser schätzen offenbar, dass sich bei ihm Unterhaltung mit Tiefsinn und Denkanstoß verbindet, kurz gesagt, das Parabelhafte. Das Motto dieses Buchs zitiert Thomas Manns „Zauberberg“, in dem es heißt, der Mensch solle „um der Liebe und Güte willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“.

Die Leben spendende Begegnung mit dem anderen Menschen, das ist Schirachs Botschaft. Ihm geht es darum, die eigenen Geschichten mit denen anderer zu verweben, Geschichten, die Liebespaare einander zuflüstern, und Geschichten, die Fremde einander nachts an einer gepflegten Hotelbar erzählen:

„Es sind leise Erzählungen von verregneten Nachmittagen und von schwarzen Nächten, und die Helden haben das Spiel endgültig verloren. Aber diese Geschichten beschützen uns vor der Einsamkeit, den Verletzungen und der Kälte. Und am Ende sind sie das Einzige, was uns wirklich gehört.“

Lebensthemen: Schuld, Verbrechen und Strafe, Sühne und Rache

Jedoch landet Schirachs Erzählen von sich selbst in „Nachmittage“ vielfach erneut bei seinen Lebensthemen Schuld, Verbrechen und Strafe, Sühne und Rache. Auch dieses Buch kommt nicht ohne spektakuläre Verbrechen und bestürzende Wendungen aus.

Zwar werden sie, wie beiläufig hingeplaudert, in bewundernswert verschachtelte Konstruktionen eingebaut. Aber leider geht dabei so manche Pointe wie ein moralischer Holzhammer auf die Leserschaft nieder – etwa, wenn sich die empörend junge Frau an der Seite eines alten Kunstmäzens als seine Enkelin entpuppt. Das hat dann schon viel von Kalendergeschichte.

Starke Texte neben viel Überflüssigem

Anderes wird ohne Not garniert mit vulgärphilosophischen Spruchweisheiten. Bei einem so intelligenten Autor und begabten Stilisten überrascht das denn doch.

Dies und einige wenig überzeugende Fingerübungen wecken den Wunsch, dass irgendwann die besseren Texte aus diesem Band und seinem Vorgänger in einer Neuausgabe vereint erscheinen, unter Auslassung des Überflüssigen.

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