John Cranko im Interview im Probenraum. Er lehnt an eine Ballettstange, sein Gesicht wird im Probenspiegel reflektiert.

Das Leben des weltberühmten Choreographen

Stuttgarter Ballettwunder: Wie John Cranko dem Stuttgarter Ballett zu Weltruhm verhalf

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Autor/in
Carolin Baumgart
Carolin Baumgart

John Cranko sagte selbst über sich, dass er ein „brauchbarer“, aber kein überaus talentierter Balletttänzer gewesen sei. Dafür war er aber ein umso größerer Choreograf, der aus dem kleinen Stuttgarter Ballett eine weltberühmte Ballettkompanie mit Klassikern machte, die bis heute getanzt werden.

Diese Schritte sind nicht einfach Choreografien, das ist eine Konversation! Wenn die Tänzer nicht verstehen, was sie tanzen, dann versteht es das Publikum auch nicht.

Schmerz, Glück und Erotik: echte Gefühle im Tanz

Mit der Konservation meint John Cranko menschliche Gefühle in ihrer kompletten Authentizität – umgesetzt in Bewegung. Mit seinem Stil, das individuell Menschliche sichtbar zu machen, hat er das Ballett neu erfunden. Bei Cranko gibt es keine Drehung ohne Inhalt. Alles muss eine Geschichte erzählen und eine fast schon filmische Dramaturgie haben: Schmerz, Verzweiflung, Trauer, Glück, Hingabe, Liebe, Erotik – alles ungeschminkt, echt und expressiv.

So packend, wie die Kunst des John Cranko ist auch der neue Spielfilm „Cranko“ über die Choreografen-Legende von Regisseur und Drehbuchautor Joachim A. Lang – ein Stück Tanzgeschichte, die sowohl im echten Leben als auch im Film beeindruckt und begeistert.

Spielfilm „Cranko“, ab 3. Oktober 2024 im Kino

Vom brauchbaren Tänzer zum genialen Choreografen

John Cranko, 1927 in Rustenburg bei Johannesburg in Südafrika geboren, wächst mit Liebe zu Musik, Kunst und Theater auf. Als Kind schafft er sein eigenes Marionetten- und Puppentheater, im Alter von 14 Jahren beginnt er mit dem Ballettunterricht. Sein Vater, Rechtsanwalt Herbert Cranko, ist ein aufgeschlossener Mann, der seinen Sohn zum Ballettstudium ermutigt und auch seine Homosexualität toleriert.

Schon früh in seiner Tanzausbildung beginnt Cranko, eigene Choreografien zu schaffen, darunter eine ambitionierte Version von Strawinskys „Histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“). Nach dem Studium in Kapstadt geht er 1946 nach London und wird Mitglied des Sadlers’s Wells Theatre Ballet, das 1956 zum Royal umbenannt wird.

John Cranko bei Proben zu einer Choreografie in London
Der Südafrikaner John Cranko fängt mit 14 Jahren mit dem Ballett an. Schnell kam aber seine eigentliche Begabung durch: Mit 19 Jahren beginnt er mit dem Choreografieren.

Immer mehr zeigt sich, dass Crankos Begabung mehr in der Choreografie als im Tanzen liegt. Mit 19 Jahren erarbeitet er eine Choreografie auf Debussys „Childen’s Corner“ (1947), die großes Aufsehen erregt.

Enormen Einfluss auf Crankos Arbeit hat auch die Begegnung und Zusammenarbeit mit dem Maler John Piper. Die Bildende Kunst, für die Cranko schon immer eine Leidenschaft hegt, fließt mehr und mehr in Crankos Werk ein, seine Ballettproduktionen entwickeln sich zu szenisch-musikalisch-bildlichen Gesamtkunstwerken.

Szenenbild Ballett "Romeo und Julia" von John Cranko. Pas de deux der beiden Hauptfiguren
Viele seiner Choreografien und Inszenierungen werden auch heute noch weltweit aufgeführt wie z.B. „Romeo und Julia“ nach William Shakespeare, hier bei einer Aufführung des Australian Ballet in Sydney.

Ab 1949 arbeitet John Cranko in London ausschließlich als Choreograf und bringt international erfolgreiche Stücke wie „La Belle Hélène“ (1955) für die Pariser Oper, „Der Pagodenprinz“ (1957) für das Royal Ballet und „Romeo und Julia“ (1958) für das Ballett der Mailänder Scala in Venedig auf die Bühne.

Zu modern und zu homosexuell für das konservative Großbritannien

Trotz seiner Publikumserfolge als Hauschoreograf des Sadler’s Wells Theatre Ballet bekommt er im Laufe der 1950er-Jahre immer weniger Aufträge. Das liegt zum einen daran, dass Ninette de Valois, die Leiterin des Royal Ballet, das klassische Repertoire nicht einschränken möchte, da es besser zum konservativen Großbritannien passe. Crankos avantgardistisches Ballett ist damit raus, andere Choreografen bekommen den Vorzug.

Zudem wird er 1959 wegen „anhaltender Aufdringlichkeit von Männern zu unmoralischen Zwecken“ verurteilt – bis 1969 stehen homosexuelle Handlungen zwischen Männern im Vereinigten Königreich unter Strafe.

Die damalige Primaballerina des Royal Ballet, Svetlana Beriosova, öffnet John Cranko die Tür zum Stuttgarter Ballett. Ihr Vater, Nicholas Beriozoff, arbeitet zu der Zeit als Ballettmeister in Stuttgart und leitet die Kompanie. Der Einladung, den „Pagodenprinz“ in Stuttgart einzustudieren, folgt Cranko.

Szenenbild Ballett "Antigone" von John Cranko. Antigone (Svetlana Beriosova) kniet zu Füßen ihres Geliebten, umringt von griechischen Soldaten.
Die Primaballerina des Royal Ballet, Svetlana Beriosova, öffnete John Cranko die Tür nach Stuttgart. Dort arbeitete ihr Vater als Ballettmeister. Schnell wurde Cranko aber auch zum Direktor des Stuttgarter Balletts. Hier tanzt Berisova die Hauptrolle in Crankos Londoner Ballett „Antigone“.

Vom Provinzballett zum „Stuttgarter Ballettwunder“

In Stuttgart beginnt die entscheidende Phase im Leben des John Cranko. Mit seinem überarbeiteten „Pagodenprinz“ hat er zunächst keinen überwältigenden Erfolg in der baden-württembergischen Hauptstadt. Trotzdem hält der damalige Intendant Walter Erich Schäfer an ihm fest. Cranko verkörpert genau das, wonach Schäfer gesucht hatte: Frische und ein Aufbruch in die Zukunft.

Zwischen der Premiere des „Pagodenprinzen“ und seinem Amtsantritt als Ballettchef im Januar 1961 liegen nur vier Wochen. Mit „Romeo und Julia“ (1962) und einer überragenden Marcia Haydée in der Hauptrolle kommt der große Erfolg. Internationale Tourneen nach New York, Paris, Peking und Moskau verhelfen Cranko und dem Stuttgarter Ballett zu Weltruhm.

John Cranko bei Proben im Ballettsaal
John Cranko während einer Ballettprobe im Stuttgarter Ballettsaal. Hier ist er von 1961 bis 1973 als Choreograf und Leiter der Kompanie tätig. Unter seiner Leitung kommt das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm.

Für Stuttgart schafft Cranko seine großen, bis heute unvergessenen Handlungsballette – „Onegin“, „Schwanensee“, „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Carmen“, „Poème de l'extase“ und „Spuren“ – aber auch choreografische Juwelen wie „Jeu de Cartes“, „Opus 1“ und „Initialen R.B.M.E.“.

Mit John Cranko beginnt eine neue Ära und die Blütezeit des Balletts in Stuttgart und bald der ganzen Welt. Der Südafrikaner hat das „Stuttgarter Ballettwunder“ geschaffen, wie es die Presse von nun an nennt.

Ein liebevoller Magier und moderner Geschichtenerzähler

Was Cranko und sein Ensemble so einzigartig macht? Er zeigt im Tanz Gefühle, die mit Worten kaum auszudrücken sind und fordert seine Tänzer*innen auf, auf der Bühne authentisch zu sein, ihre einzigartige Individualität zu zeigen und die Charaktere, die sie darstellen, seelisch zu erfüllen, aus ihrem tiefsten Innersten heraus.

Porträt der Ballerina Marcia Haydee im Jahr 1976
John Cranko holt unbekannte Talente nach Stuttgart, unter ihnen die Brasilianerin Marcia Haydée. Er macht sie zur Primaballerina und zu einer der erfolgreichsten Tänzerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach Crankos Tod 1976 übernimmt Haydée die Ballettdirektion in Stuttgart bis 1996.

Cranko ist ein Geschichtenerzähler, ein Magier, der den Menschen mit all seinen Facetten und Gefühlen in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt und damit Handlungsballette zu etwas bislang Ungesehenen weiterentwickelt.

Alte Rollenbilder bricht Cranko auf, indem er die Rolle der Männer auf der Bühne stärkt und Tänzerinnen aus dem Los der ewigen Jungfräulichkeit herausholt. In seinen Choreografien inszeniert er starke Frauenrollen. Er bringt eine außerordentliche Musikalität und einen großartigen Humor mit, zudem ist er ein Meister des Pas de deux, des Paartanzes und der Höhepunkts der großen Ballettklassiker.

Es gibt im Lebenswerk Crankos nichts Hinreißenderes als seine Pas de deux; es gibt in der Welt kaum einen, der Pas de deux in gleichwertiger Weise geschaffen hat wie John Cranko.

Seine Liebe zum Leben, zur Kunst und zu seinen Tänzer*innen leitet Cranko dabei und ist für ihn das Größte und Höchste, das es zu erreichen gilt. Das wirkt sich auch auf alle aus, die mit und unter ihm arbeiten. Seiner Kompanie fordert er alles ab, aber mit Liebe. Dadurch folgt sie ihm bedingungslos.

Szenenbild Ballett "Onegin" von John Cranko an der Oper Leipzig.
John Cranko war der Meister des Pas de deux. Das Duett gilt als Höhepunkt eines Ballettabends. Damit eroberte er das internationale Publikum. Zum Klassiker wurde „Onegin“, ein Paradebeispiel für Crankos Talent, Geschichten nuanciert und mit klaren dramatischen Strukturen zu erzählen.

Talentschmiede „Stuttgarter Ballett“

Mit psychologischem Gespür und scharfer Beobachtungsgabe erkannte Cranko die Talente und Qualitäten seiner Tänzerinnen und Tänzer. Neben der unbekannten, brasilianischen Tänzerin Marcia Haydée, die er später zum Weltstar macht, sind auch solistische Glanzträger wie Birgit Keil, Susanne Hanke, Richard Cragun, Heinz Clauss und Egon Madsen maßgeblich am „Stuttgarter Ballettwunder“ beteiligt – alle von Cranko nach Ausdrucksstärke, Sensibilität, Energie und Typen ausgesucht.

Crankos Idee, in Stuttgart eine Ausbildungsstätte für Nachwuchstänzer*innen zu schaffen, wird 1971 in die Tat umgesetzt. Die erste kontinuierliche Ausbildung für klassischen Tanz, von der Grundausbildung bis zum Berufsabschluss, entsteht. Unter der Leitung von Anne Woolliams avanciert die Schule zu einer der international besten Adressen für den Ballettnachwuchs. Heute gehört die John-Cranko-Schule zu den renommiertesten Ballettschulen der Welt.

Er regierte nicht mit Angst, sondern mit Liebe.

Viele international namhafte Choreografen werden in der Stuttgarter Kaderschmiede ausgebildet, unter ihnen unter anderem William Forsythe, Jiri Kylian, John Neumeier, Uwe Scholz, Christian Spuck, Demis Volpi, Marco Goecke und Bridget Breiner.

Zwischen Perfektion und Depressionen

Der leidenschaftliche Cranko, der besessen ist von seiner Arbeit und der Perfektion im Tanz und alle mit seiner Begeisterung mitzieht, hat auch seine dunklen Seiten, die sein Leben immer stärker beeinflussen: Kettenrauchen, Schlafstörungen, cholerische Anfälle, das überspannte Gefühl des Geliebtseinwollen, Depressionen – all das versucht er mit Alkohol und Medikamenten zu bezwingen.

Szenenbild "Gloriana", Choreografie von John Cranko. Produzent Basil Coleman im Gespräch mit John Cranko und Ballerina Svetlana Bariosova.
Bei der Uraufführung von Benjamin Brittens Oper „Gloriana“ zu Ehren der Krönung von Queen Elizabeth II. choreografierte John Cranko am Royal Opera House in London die Tanzszenen. Hier eine Aufnahme aus den Proben mit Produzent Basil Coleman (links) Ballerina Svetlana Bariosova (rechts).

Schockartig kommt das „Stuttgarter Ballettwunder“ zu seinem Ende, als John Cranko am 26. Juni 1973 auf dem Rückflug von einer weiteren USA-Tournee nach Stuttgart im Flugzeug an einem Herzversagen stirbt.

Bis zu seinem Tod sind in Stuttgart und München, wo er ab 1968 an ebenfalls als Chef-Choreograf arbeitet, rund dreißig Stücke entstanden. Cranko ist zu verdanken, dass Ballett eine eigene Sparte an den großen Bühnen geworden ist, teilweise mit eigener Direktion und gleichberechtigt neben Oper und Orchester steht.

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