Schmerz, Glück und Erotik: echte Gefühle im Tanz
Mit der Konversation meint John Cranko menschliche Gefühle in ihrer kompletten Authentizität – umgesetzt in Bewegung. Mit seinem Stil, das individuell Menschliche sichtbar zu machen, hat er das Ballett neu erfunden. Bei Cranko gibt es keine Drehung ohne Inhalt. Alles muss eine Geschichte erzählen und eine fast schon filmische Dramaturgie haben: Schmerz, Verzweiflung, Trauer, Glück, Hingabe, Liebe, Erotik – alles ungeschminkt, echt und expressiv.
So packend, wie die Kunst des John Cranko ist auch der neue Spielfilm „Cranko“ über die Choreografen-Legende von Regisseur und Drehbuchautor Joachim A. Lang – ein Stück Tanzgeschichte, die sowohl im echten Leben als auch im Film beeindruckt und begeistert.
Spielfilm „Cranko“, ab 3. Oktober 2024 im Kino
Vom brauchbaren Tänzer zum genialen Choreografen
John Cranko, 1927 in Rustenburg bei Johannesburg in Südafrika geboren, wächst mit Liebe zu Musik, Kunst und Theater auf. Als Kind schafft er sein eigenes Marionetten- und Puppentheater, im Alter von 14 Jahren beginnt er mit dem Ballettunterricht. Sein Vater, Rechtsanwalt Herbert Cranko, ist ein aufgeschlossener Mann, der seinen Sohn zum Ballettstudium ermutigt und auch seine Homosexualität toleriert.
Schon früh in seiner Tanzausbildung beginnt Cranko, eigene Choreografien zu schaffen, darunter eine ambitionierte Version von Strawinskys „Histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“). Nach dem Studium in Kapstadt geht er 1946 nach London und wird Mitglied des Sadlers’s Wells Theatre Ballet, das 1956 zum Royal umbenannt wird.
Immer mehr zeigt sich, dass Crankos Begabung mehr in der Choreografie als im Tanzen liegt. Mit 19 Jahren erarbeitet er eine Choreografie auf Debussys „Childen’s Corner“ (1947), die großes Aufsehen erregt.
Enormen Einfluss auf Crankos Arbeit hat auch die Begegnung und Zusammenarbeit mit dem Maler John Piper. Die Bildende Kunst, für die Cranko schon immer eine Leidenschaft hegt, fließt mehr und mehr in Crankos Werk ein, seine Ballettproduktionen entwickeln sich zu szenisch-musikalisch-bildlichen Gesamtkunstwerken.
Ab 1949 arbeitet John Cranko in London ausschließlich als Choreograf und bringt international erfolgreiche Stücke wie „La Belle Hélène“ (1955) für die Pariser Oper, „Der Pagodenprinz“ (1957) für das Royal Ballet und „Romeo und Julia“ (1958) für das Ballett der Mailänder Scala in Venedig auf die Bühne.
Zu modern und zu homosexuell für das konservative Großbritannien
Trotz seiner Publikumserfolge als Hauschoreograf des Sadler’s Wells Theatre Ballet bekommt er im Laufe der 1950er-Jahre immer weniger Aufträge. Das liegt zum einen daran, dass Ninette de Valois, die Leiterin des Royal Ballet, das klassische Repertoire nicht einschränken möchte, da es besser zum konservativen Großbritannien passe. Crankos avantgardistisches Ballett ist damit raus, andere Choreografen bekommen den Vorzug.
Zudem wird er 1959 wegen „anhaltender Aufdringlichkeit von Männern zu unmoralischen Zwecken“ verurteilt – bis 1969 stehen homosexuelle Handlungen zwischen Männern im Vereinigten Königreich unter Strafe.
Die damalige Primaballerina des Royal Ballet, Svetlana Beriosova, öffnet John Cranko die Tür zum Stuttgarter Ballett. Ihr Vater, Nicholas Beriozoff, arbeitet zu der Zeit als Ballettmeister in Stuttgart und leitet die Kompanie. Der Einladung, den „Pagodenprinz“ in Stuttgart einzustudieren, folgt Cranko.
Vom Provinzballett zum „Stuttgarter Ballettwunder“
In Stuttgart beginnt die entscheidende Phase im Leben des John Cranko. Mit seinem überarbeiteten „Pagodenprinz“ hat er zunächst keinen überwältigenden Erfolg in der baden-württembergischen Hauptstadt. Trotzdem hält der damalige Intendant Walter Erich Schäfer an ihm fest. Cranko verkörpert genau das, wonach Schäfer gesucht hatte: Frische und ein Aufbruch in die Zukunft.
Zwischen der Premiere des „Pagodenprinzen“ und seinem Amtsantritt als Ballettchef im Januar 1961 liegen nur vier Wochen. Mit „Romeo und Julia“ (1962) und einer überragenden Marcia Haydée in der Hauptrolle kommt der große Erfolg. Internationale Tourneen nach New York, Paris, Peking und Moskau verhelfen Cranko und dem Stuttgarter Ballett zu Weltruhm.
Für Stuttgart schafft Cranko seine großen, bis heute unvergessenen Handlungsballette – „Onegin“, „Schwanensee“, „Der Widerspenstigen Zähmung“, „Carmen“, „Poème de l'extase“ und „Spuren“ – aber auch choreografische Juwelen wie „Jeu de Cartes“, „Opus 1“ und „Initialen R.B.M.E.“.
Mit John Cranko beginnt eine neue Ära und die Blütezeit des Balletts in Stuttgart und bald der ganzen Welt. Der Südafrikaner hat das „Stuttgarter Ballettwunder“ geschaffen, wie es die Presse von nun an nennt.
Ein liebevoller Magier und moderner Geschichtenerzähler
Was Cranko und sein Ensemble so einzigartig macht? Er zeigt im Tanz Gefühle, die mit Worten kaum auszudrücken sind und fordert seine Tänzer*innen auf, auf der Bühne authentisch zu sein, ihre einzigartige Individualität zu zeigen und die Charaktere, die sie darstellen, seelisch zu erfüllen, aus ihrem tiefsten Innersten heraus.
Cranko ist ein Geschichtenerzähler, ein Magier, der den Menschen mit all seinen Facetten und Gefühlen in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt und damit Handlungsballette zu etwas bislang Ungesehenen weiterentwickelt.
Alte Rollenbilder bricht Cranko auf, indem er die Rolle der Männer auf der Bühne stärkt und Tänzerinnen aus dem Los der ewigen Jungfräulichkeit herausholt. In seinen Choreografien inszeniert er starke Frauenrollen. Er bringt eine außerordentliche Musikalität und einen großartigen Humor mit, zudem ist er ein Meister des Pas de deux, des Paartanzes und der Höhepunkts der großen Ballettklassiker.
Seine Liebe zum Leben, zur Kunst und zu seinen Tänzer*innen leitet Cranko dabei und ist für ihn das Größte und Höchste, das es zu erreichen gilt. Das wirkt sich auch auf alle aus, die mit und unter ihm arbeiten. Seiner Kompanie fordert er alles ab, aber mit Liebe. Dadurch folgt sie ihm bedingungslos.
Talentschmiede „Stuttgarter Ballett“
Mit psychologischem Gespür und scharfer Beobachtungsgabe erkannte Cranko die Talente und Qualitäten seiner Tänzerinnen und Tänzer. Neben der unbekannten, brasilianischen Tänzerin Marcia Haydée, die er später zum Weltstar macht, sind auch solistische Glanzträger wie Birgit Keil, Susanne Hanke, Richard Cragun, Heinz Clauss und Egon Madsen maßgeblich am „Stuttgarter Ballettwunder“ beteiligt – alle von Cranko nach Ausdrucksstärke, Sensibilität, Energie und Typen ausgesucht.
Crankos Idee, in Stuttgart eine Ausbildungsstätte für Nachwuchstänzer*innen zu schaffen, wird 1971 in die Tat umgesetzt. Die erste kontinuierliche Ausbildung für klassischen Tanz, von der Grundausbildung bis zum Berufsabschluss, entsteht. Unter der Leitung von Anne Woolliams avanciert die Schule zu einer der international besten Adressen für den Ballettnachwuchs. Heute gehört die John-Cranko-Schule zu den renommiertesten Ballettschulen der Welt.
Viele international namhafte Choreografen werden in der Stuttgarter Kaderschmiede ausgebildet, unter ihnen unter anderem William Forsythe, Jiri Kylian, John Neumeier, Uwe Scholz, Christian Spuck, Demis Volpi, Marco Goecke und Bridget Breiner.
Zwischen Perfektion und Depressionen
Der leidenschaftliche Cranko, der besessen ist von seiner Arbeit und der Perfektion im Tanz und alle mit seiner Begeisterung mitzieht, hat auch seine dunklen Seiten, die sein Leben immer stärker beeinflussen: Kettenrauchen, Schlafstörungen, cholerische Anfälle, das überspannte Gefühl des Geliebtseinwollen, Depressionen – all das versucht er mit Alkohol und Medikamenten zu bezwingen.
Schockartig kommt das „Stuttgarter Ballettwunder“ zu seinem Ende, als John Cranko am 26. Juni 1973 auf dem Rückflug von einer weiteren USA-Tournee nach Stuttgart im Flugzeug an einem Herzversagen stirbt.
Bis zu seinem Tod sind in Stuttgart und München, wo er ab 1968 an ebenfalls als Chef-Choreograf arbeitet, rund dreißig Stücke entstanden. Cranko ist zu verdanken, dass Ballett eine eigene Sparte an den großen Bühnen geworden ist, teilweise mit eigener Direktion und gleichberechtigt neben Oper und Orchester steht.