In ihrer ersten Opernregie greift die Regisseurin und Choreografin Florentina Holzinger die kurze Oper „Sancta Susanna" von Paul Hindemith auf, um die Frage nach weiblicher Sexualität innerhalb der christlichen Religion zu stellen. Herausgekommen ist eine sensationelle feministische Überschreibung von Kirchenritualen hin zu einer selbstbestimmten Feier des weiblichen Körpers.
Scham und Schuld ablegen, mit denen der Frauenkörper bestraft wurde
Das verbotene Begehren, das Schwester Susanna zu Beginn der Opernperformance „Sancta“ in sich fühlt, bleibt bei Florentina Holzinger keine Imagination. Während Susanna vorn am Bühnenrand von Schwester Klementia beschworen wird, von der körperlichen Liebe zu lassen; küssen, reiben und berühren sich leidenschaftlich zwei nackte Performerinnen ganz hinten vor einer riesigen Kletterwand. Später klettern sie auf ein leuchtendes Kreuz: die Jesusfigur wird ersetzt durch ein umschlungenes Frauenpaar.
"Sancta" sorgt mit heftigen Szenen für Aufsehen
Damit ist die Aussage gesetzt: in der knapp dreistündigen Performance wird es darum gehen, jegliche Scham und Schuld, mit der das Christentum den Frauenkörper seit Jahrhunderten bestraft hat, abzulegen.
Nach 20 Minuten Hindemith inszeniert Florentina Holzinger den Befreiungsschlag
Die Gewalt, mit der dieser Schuldkomplex auferlegt wurde, zeigt sich in der Geschichte von Beata: Sie wurde vor 30 Jahren bei lebendigem Leib eingemauert, als Strafe dafür, sich nackt ans Kreuz geschmiegt zu haben. Susanna meint, ihre Rufe noch immer zu hören.
Nach diesen ersten zwanzig Minuten der kurzen Oper von Paul Hindemith inszeniert Florentina Holzinger den großen Befreiungsschlag. Wie ein dunkler Racheengel durchbricht plötzlich eine nackte und mit E-Gitarre ausgestattete Beata ihr Gefängnis aus Stein.
Nackte Darstellerinnen definieren den Glauben an das, was uns heilig ist, neu
Was nun folgt ist eine ebenso erschütternde wie unterhaltsame Opernperformance, in der ausschließlich nackte Darstellerinnen einerseits auf die religiöse Gewaltgeschichte hinweisen und andererseits den Glauben an das, was uns heilig ist, neu definieren.
Die Umdeutung geschieht in sehr bewegenden Bildern wie dem nackten, baumelnden Frauenkörper, der hier in einer riesigen herabgelassenen Kirchenglocke zur Stunde schlägt. Oder die nackten Nonnen mit Hauben, die auf einer Half-Pipe Inline-Skates fahren. An der Kletterwand hängen gekreuzigte Frauen, aus denen Blut rinnt und es werden verschiedene Bilder der Pietá nachgestellt.
Der weibliche Jesus ist „much more fun“ als das männliche Leidensbild
Doch die Arbeiten von Florentina Holzinger haben auch stets Elemente von Varieté und Zaubershow. Und natürlich ganz viel Parodie, wie beim Auftritt des weiblichen Jesus im Zuschauerraum. Sie kommt zu spät, raucht Elektrozigarette, verteilt Autogrammkarten, erteilt dem Publikum die Absolution. Und sie ist viel relaxter und much more fun als das männliche Leidensbild.
So ist „Sancta“ vor allem eine selbstbewusste Aneignung kirchlicher Rituale, in der durch Choreografien und Gesänge eine eigene theatrale Form von religiösem Erleben erschaffen wird.
So sähe das also aus, eine humorvoll feministische Feier-Messe, bei der ein weiblicher Heiliger Geist mit spektakulären Tricks beim Abendmahl Weinflaschen auf den Tisch zaubert und Jesus das Publikum zum Beichten auffordert, denn nur wer sündigt, gewinnt.
Trailer „Sancta“ von Florentina Holzinger:
Jubel ohne Ende in Stuttgart
Und als am Ende das nackte Ensemble seine zentrale Botschaft verkündet, nämlich die Akzeptanz jedes Körpers, jedes Begehrens und die Liebe, die wir alle untereinander teilen sollen, da reißt es noch den letzten Zuschauer im Opernhaus aus dem Sitz. „Träum es nicht, sei es!“, singt dann das gesamte Publikum gemeinsam.
Und das kann auf diese Weise vielleicht nur Florentina Holzinger: in der Kunst einen Raum erschaffen, in dem für eine kurze Zeit das alles möglich scheint, Akzeptanz, Toleranz und Liebe. Der Glaube macht's möglich. In Stuttgart gibt es dafür Jubel ohne Ende.
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