Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir will Spitzenkandidat der Grünen BW bei der Landtagswahl im Frühjahr 2026 werden. In einem vierseitigen Brief an die Menschen in Baden-Württemberg, der am Freitagmittag veröffentlicht wurde, bereitet der 58-Jährige den monatelangen Spekulationen ein Ende: "Meine Entscheidung steht: Ich möchte Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, als Ministerpräsident von Baden-Württemberg dienen und alles für dieses Land geben."
Özdemir veröffentlicht Brief: "Entschieden für Baden-Württemberg"
Özdemir galt parteiintern schon lange als gesetzt für die Kandidatur. Er soll nach einem möglichen Wahlsieg auf Ministerpräsident Winfried Kretschmann folgen. Der 76-jährige Kretschmann hatte schon vor längerem angekündigt, nach drei Wahlperioden nicht mehr antreten zu wollen. Özdemir schreibt in dem Brief mit dem Titel "Entschieden für Baden-Württemberg", es bedeute ihm viel, "dass Winfried Kretschmann meine Entscheidung aus vollem Herzen unterstützt".
Tatsächlich war die Sehnsucht bei vielen Grünen groß. Viele sind froh, dass das monate- oder gar jahrelange Versteckspiel ein Ende hat. Özdemir galt sehr lange als Nachfolgekandidat von Kretschmann, der seit 13 Jahren als einziger grüner Regierungschef eines deutschen Bundeslandes einsam seine Bahnen zieht.
Nun hat sich der Bundeslandwirtschaftsminister entschieden: Özdemir will der Bundespolitik nach mehreren Jahrzehnten ade sagen und bei der Landtagswahl im Frühjahr 2026 den drohenden Machtverlust für die Grünen verhindern.
Özdemir erinnert an Mahnung seiner Mutter: "Immer alles für dieses Land geben"
In dem Brief schreibt der studierte Sozialpädagoge und Stuttgarter Bundestagsabgeordnete: "Die Menschen, die hier leben, liegen mir am Herzen. Sie haben mir und meinen Eltern viel gegeben und ermöglicht." Ihm sei "sehr bewusst, welch große Verantwortung es bedeutet, dieses wunderbare Land als Ministerpräsident zu führen. Ich habe mich deshalb gründlich geprüft. Dabei habe ich viel an meine Eltern gedacht, besonders an eine Mahnung meiner Mutter: 'Cem, dieses Land hat dir ermöglicht, Abgeordneter zu werden. Das ist eine große Ehre. Vor allem aber ist es die Verpflichtung, immer alles für dieses Land zu geben'".
Er, der Sohn türkischer Eltern, die Anfang der 60er Jahre nach Deutschland kamen, sich hier kennenlernten und in Bad Urach (Kreis Reutlingen) niederließen. In dem Schreiben heißt es ganz zu Anfang: "Mein Name ist Cem Özdemir. Ich bin in Bad Urach, am Fuße der Schwäbischen Alb, geboren und aufgewachsen. Unser Land hat meine Werte, meine Überzeugungen und meine Sicht aufs Leben geprägt. Es hat mir Chancen eröffnet, mich gefordert und geerdet."
Wie Özdemirs Chancen auf Erfolg bei der Landtagswahl 2026 in BW stehen, schätzt Henning Otte, Redakteur aus der SWR-Redaktion Landespolitik ein.
Schwierige Ausgangslage: Grüne BW in Umfragen weit hinter CDU
Die politische Ausgangslage für Özdemir ist allerdings schwierig. Die Kretschmann-Grünen, die bei der Wahl 2021 noch den Rekord von 32,6 Prozent schafften, liegen in Umfragen nur noch bei 18 Prozent. Der kleine Koalitionspartner CDU mit dem jungen Vorsitzenden Manuel Hagel liegt - auch dank Berliner Rückenwind - bei 34 Prozent. Zwar ist der Wert der Landes-Grünen noch immer deutlich über dem Niveau der angeschlagenen Bundespartei von knapp über 10 Prozent, doch die Sorgenfalten der Strategen in BW sind tief. Ihre Hoffnungen ruhen auf Özdemir, dem selbsternannten "anatolischen Schwaben".
Özdemir will Kretschmann-Nachfolger werden Meinung: "Keine Zeit für ein Schaulaufen von Özdemir oder Hagel"
Cem Özdemir will grüner Spitzenkandidat bei der BW-Landtagswahl 2026 werden. Dabei sollte es in der Landespolitik jetzt nicht um Personalien gehen, meint Redakteurin Uschi Strautmann.
Als vor kurzem die neuesten Umfragewerte kamen, erklärten die beiden Landeschefs Lena Schwelling und Pascal Haggenmüller, die Grünen müssten dringend Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. "Das gelingt am besten durch starke Persönlichkeiten. Mit einem überzeugenden personellen Angebot für unser schönes Bundesland werden wir als Partei geschlossen daran arbeiten, den Trend zu drehen und unseren pragmatischen Kurs konsequent fortzuführen."
Viel Skepsis von CDU, SPD bringt Neuwahlen ins Spiel Das sagen andere Politiker zu Özdemirs Spitzenkandidatur in BW
Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir will für die Grünen in BW als Spitzenkandidat in die Landtagswahl 2026 gehen. Erste Reaktionen aus der Politik.
Özdemir gilt vielen Grünen als Hoffnungsträger und Idealbesetzung
Özdemir gilt unter vielen Grünen als Idealbesetzung für Kretschmanns Nachfolge. Der Mann ist bundesweit bekannt und politisch erfahren, er gilt als äußerst pragmatisch und guter Redner. Bei der Bundestagswahl gewann er seinen Stuttgarter Wahlkreis mit 40 Prozent der Stimmen und wurde Stimmenkönig seiner Partei - kein Direktkandidat und keine Direktkandidatin der Grünen schnitt besser ab als er. Der jüngste BW-Trend zeigte: Özdemir ist 89 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg bekannt. Mit seiner Arbeit sind 44 Prozent zufrieden, die andere Hälfte ist weniger oder gar nicht zufrieden (45 Prozent).
Grüne Strategen sind überzeugt, es sei ein großer Trumpf, dass die Menschen wüssten, was sie mit dem regierungserfahrenen Özdemir erwarte. Ganz anders sei das bei CDU-Landeschef Hagel (36), der voraussichtlich Özdemirs Konkurrent sein wird und die Durststrecke für die Union beenden will. Die Umfrage von Infratest dimap hatte jüngst ergeben, dass nur ein Drittel der Menschen in BW Hagel kennen. Bei denen, die sich ein Urteil zutrauen, halten sich Lob und Kritik in etwa die Waage (17 zu 16 Prozent).
Özdemir als prominenter Minister der Ampel: Ein Nachteil für die Ambitionen in BW?
Doch es gibt auch die Sorge, dass Özdemir ein Opfer des bundesweit grünen Abwärtstrends werden könnte. Er ist ein prominenter Minister der Ampel-Regierung, die unbeliebt ist wie keine zuvor. Doch Özdemir gelingt es immer wieder, sich von der eigenen Regierung abzusetzen, etwa während der Bauernproteste zu Jahresanfang. Er stellte sich den wütenden Landwirten - vor allem in BW - und beteuerte, von der Streichung der Subventionen nichts gewusst zu haben. Später betonte Özdemir, die teilweise Rücknahme der Pläne gehe auf ihn zurück.
Zweifel an Özdemir gibt es auch bei den Grünen
Doch auch bei den Grünen gibt es Zweifler, die glauben, dass Kretschmanns Schuhe zu groß für Özdemir sein könnten. Dieter Salomon, Ex-OB von Freiburg, sagte im Sommer im SWR-Videopodcast "Zur Sache intensiv", Özdemir sei zwar ein sehr beliebter und erfahrener Politiker. "Aber ich habe schon Bedenken, ob er über die grüne Kernklientel hinaus so viel Stimmen kriegen kann, wie das Winfried Kretschmann getan hat." Salomon stellte auch infrage, ob die Menschen in BW einen Politiker mit türkischen Wurzeln als Regierungschef wollen. "Ich würde mich im Interesse von Cem, dem ich das gönnen würde, gerne täuschen. Aber ich glaube, das ist nicht so einfach, wie sich manche Grüne das vorstellen."
Für andere Grüne wäre es die Krönung Özdemirs nach einer langen politischen Karriere - andere sagen, es ist seine letzte Option auf ein hohes Amt. Denn ob die Grünen angesichts des momentanen Trends überhaupt nochmal in die Bundesregierung kommen, ist mehr als ungewiss. Zudem stehen der designierte Kanzlerkandidat Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock bei wichtigen Personalentscheidungen wohl immer vor Özdemir.
Kretschmann und Özdemir stehen nun unter genauer Beobachtung. Wo sind sie einer Meinung, wo nicht? Noch ist Özdemir zwar in Berlin, ganz raushalten aus der Landespolitik kann er sich voraussichtlich aber nicht. Als Grünen-Spitzenkandidat wird er nach seiner Meinung gefragt werden und sich dann positionieren müssen. Möglicherweise steht Baden-Württemberg damit ein langer Wahlkampf bevor. Hagel kann Özdemir nämlich nicht die Bühne überlassen. Das könnte auch die Regierungsarbeit der grün-schwarzen Landesregierung beeinflussen.
Cem Özdemir: Eine steile Karriere mit Rückschlägen
Der studierte Sozialpädagoge hat eine bewegte Karriere bei den Grünen hinter sich - mit Höhen und Tiefen. Mit 16 Jahren tritt er der Ökopartei bei, 1994 schafft er den Sprung in den Bundestag. 2002 verlässt er das Parlament nach zwei Affären: Er soll dienstlich erworbene Bonusmeilen privat verflogen und von einem PR-Berater einen Privatkredit angenommen haben. Nach einer Pause zieht er 2004 ins EU-Parlament ein. Wenige Jahre später schafft er den Sprung in die Doppelspitze der Bundespartei - und bleibt dort bis 2018.
In die Bundestagswahl 2017 geht er als Spitzenkandidat. Wäre es zu einer Jamaika-Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gekommen, hätte Özdemir wohl den Posten des Außenministers übernommen. Dazu sollte es wegen des FDP-Rückzugs nicht kommen. Mit dem Aufstieg von Baerbock und Habeck an die Parteispitze 2018 geriet Özdemir in den Hintergrund. Dennoch wurde der Vegetarier vor drei Jahren Landwirtschaftsminister der Ampel und zog dabei an Anton Hofreiter vorbei.
Obwohl Özdemir Bundespolitiker ist, zeigt er sich auffallend oft bei Terminen in BW. Der 58-Jährige ist großer Fan des VfB Stuttgart und oft bei Heimspielen im Stadion. Ende vergangenen Jahres gab er die Trennung von seiner Frau, einer Journalistin, bekannt. Die beiden haben zwei Kinder. Özdemir soll nun mit einer kanadischen Juristin zusammen sein, die 20 Jahre jünger ist als er.