Winfried Kretschmann befindet sich in illustrer Gesellschaft: Der Heavy-Metal-Musiker Ozzy Osbourne, der französische Schauspieler Gérard Dépardieu werden dieses Jahr ebenfalls 75, sein grüner Kompagnon Joschka Fischer ist es schon seit April. Während die ersten beiden Exzentriker weiter für Wirbel sorgen, ist es um Ex-Außenminister Fischer eher ruhig geworden. Schon vor 18 Jahren hat sich Fischer ("Ich war einer der letzten Rock’n’Roller der deutschen Politik") zurückgezogen. Kretschmann, zwischen 1986 und 1988 Grundsatzreferent des hessischen Umweltministers und Ex-Steinewerfers Fischer, macht es dagegen wie Osbourne und Dépardieu: immer weiter.
Schon klar, dieser kauzige Mann von der Schwäbischen Alb mit dem Bürstenhaarschnitt und den Gesundheitslatschen ist nicht vergleichbar mit Osbourne und Dépardieu. Aber immerhin: Kretschmann war - so viel Exzentrik muss sein - als Student mal kurz Maoist und ist seit 2011 der so ziemlich einzige grüne Regierungschef weltweit. Und auch mit 75 will der grüne Superrealo noch ein Weilchen Ministerpräsident im Autoland Baden-Württemberg bleiben - wie es momentan aussieht bis zur nächsten Landtagswahl 2026. Doch für die BW-Grünen könnte das noch ein echtes Problem werden. Denn die Emanzipation von ihrem Übervater und Erfolgsgaranten kommt auch zwei Jahre nach der Landtagswahl und drei Jahre vor der nächsten nicht so recht voran.
Kretschmann auf Rekordjagd
Es ist nicht so, dass sich Kretschmann gar keine Gedanken über seinen Abschied machen würde. Das Bild für die Ahnengalerie in der Staatskanzlei hat er angeblich schon ausgesucht. Doch eine öffentliche Diskussion über einen vorzeitigen Auszug aus der Villa Reitzenstein hoch über dem Stuttgarter Kessel ist ihm wie Spitzgras. Schließlich will er nicht als "lahme Ente" gelten. Außerdem ist Kretschmann auf Rekordjagd. Wenn er bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2026 durchhält, ist der Grüne der Ministerpräsident mit der längsten Amtszeit in der Geschichte Baden-Württembergs. Noch vor dem CDU-Mann Erwin Teufel (83). Wer den Ministerpräsidenten darauf anspricht, erntet ein vielsagendes Schweigen und blickt in blitzende Augen.
Seit zwölf Jahren im Amt Nachfolge-Debatte: Kretschmann will nicht vorzeitig aufhören
Hört Winfried Kretschmann als Ministerpräsident früher auf? Die Antwort des fast 75-Jährigen ist eindeutig. Schon jetzt gibt er möglichen Nachfolgern Tipps.
Kein Bürgerschreck: Kretschmann zieht 1980 in Landtag ein
Dabei sieht es lange danach aus, als würde Kretschmann sein politisches Leben auf harten Oppositionsbänken verbringen. 44 Jahre ist es her, dass der Lehrer für Ethik, Biologie und Chemie die Grünen in Baden-Württemberg mitgründete. Er gehört schon der ersten grünen Parlamentsgruppe an, die 1980 in Stuttgart in den Landtag eines Flächenlandes einzieht. Kretschmann ist schon damals kein Bürgerschreck, er kommt im grauen Anzug und nicht mit weißen Turnschuhen. Für die Grünen folgen Jahrzehnte in der Opposition. Lange sieht es so aus, als würde sich das auch nie ändern im Land von Lothar Späth und Erwin Teufel.
Der Mann aus Sigmaringen ist schließlich einer der ersten, der sich eine Koalition mit der damals noch übermächtigen CDU vorstellen kann. Nach der Landtagswahl 2006 ist es fast soweit: Der damalige Regierungschef Günther Oettinger führt die Gespräche, doch Fraktionschef Stefan Mappus durchkreuzt die Pläne. Fünf Jahre später steht der Grüne ganz oben. Der Konflikt um Stuttgart 21, die Atomkatastrophe in Fukushima kurz vor der Landtagswahl 2011 und das Rambo-Image von Kurzzeit-Regierungschef Mappus stellen alles auf den Kopf. Die Grünen überholen gemeinsam mit der SPD die schwarz-gelbe Koalition. "Alle meine Gegner haben deswegen meine Wahl als Unfall der Geschichte betrachtet, als ein temporäres Ereignis", hat Kretschmann mal gesagt. Das temporäre Ereignis dauert nun zwölf Jahre an.
Droht Grünen mit Kretschmann ein Schicksal wie CDU mit Merkel?
Kretschmann war immer ein großer Fan von Angela Merkel - daran hat sich auch nach ihrem Abgang und der massiven Kritik an ihrer Russland-Politik nichts geändert. Bei der Landtagswahl könnte sich in Baden-Württemberg bei den Grünen so ähnlich wiederholen, was 2021 auf Bundesebene mit der Union passiert ist: der Absturz nach dem Abgang des populären Regierungschefs zum Ende der Wahlperiode. Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet ging bekanntlich gegen den selbst erklärten Merkel-Erben Olaf Scholz (SPD) unter.
Den Grünen in Baden-Württemberg sitzt merklich die Angst in den Knochen, dass ihre Regierungszeit 2026 enden könnte. Denn der wertkonservative Kretschmann hat die Ökopartei in weiten Teilen des Landes anschlussfähig gemacht. Zur Erinnerung: Die Südwest-Grünen stiegen im Frühjahr 2021 mit ihrem Zugpferd Kretschmann auf das Allzeithoch 32,6 Prozent - ein halbes Jahr später landete die Bundespartei mit Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock an der Spitze trotz großer Ambitionen nur bei 14,6 Prozent. Und so stellen sich viele bei den Grünen die Frage: Wer soll das Kretschmann-Erbe antreten - und wann? Eigentlich kommen derzeit nur drei Männer dafür infrage:
"Kein g’mähtes Wiesle": BW-Grüne müssen sich bald neu orientieren
Bei den zwei vergangenen Landtagswahlen mussten die Grünen nur plakatieren: Grün wählen heißt Kretschmann wählen. Vor der nächsten Wahl ist das nicht mehr möglich. Hinzu kommt: Ein halbes Jahr vorher ist Bundestagswahl. Das Ergebnis in Baden-Württemberg wird somit auch vom Bundestrend abhängen. Landet die Ökopartei im Bund nur bei 15 Prozent, dürfte es auch im Südwesten schwer werden, wieder ganz vorne zu landen. Es sei "kein g’mähtes Wiesle", sagen grüne Strategen. Klar sei, dass sich die Grünen nach den Kommunal- und Europawahlen im Sommer 2024 positionieren müssten, wie sie die Landtagswahl angehen wollen. Dann müsste auch Özdemir Farbe bekennen - denn wenig später werden die Listen für die nächste Bundestagswahl aufgestellt.
Und dann stellt sich die Frage, ob Kretschmann vorzeitig Platz macht für einen Nachfolger, damit dieser sich einen Amtsbonus erarbeiten kann. Es gibt führende Grüne, die sich wünschen, dass mehr in die Zukunft gedacht wird und nicht nur bis zum Ende der Legislaturperiode. Aber der Regierungschef arbeitet noch an seiner Bilanz und der Ausbau der erneuerbaren Energien, insbesondere der Windkraft, ist noch ziemlich weit entfernt vom "Hochlauf", den Kretschmann sich wünscht. So richtig grün ist das Autoland Baden-Württemberg auch nach zwölf Jahren grüner Dominanz nicht. Die CDU hat null Interesse daran, dass der Grüne vorzeitig abtritt. Der Ministerpräsident selbst soll sich 2021 während den Sondierungsgesprächen die Zusage von Strobl geholt haben, dass die Christdemokraten einen möglichen Nachfolger mitwählen. Ob sich Hagel an eine solche Zusage gebunden fühlen würde? Zweifel sind angebracht.
Festakt zum 75. Geburtstag soll kein Politikum werden
Aber erst mal feiert Kretschmann an diesem Mittwoch bei einem Festakt im Neuen Schloss in Stuttgart seinen 75. Geburtstag. Es gibt drei Redner, die allesamt langjährige Weggefährten sind: Strobl, die frühere Grünen-Fraktionschefin Edith Sitzmann und den ehemaligen EnBW-Chef Frank Mastiaux. Kretschmann habe sich die Redner zum Geburtstag selbst ausgesucht, heißt es. Er habe kein Politikum aus dem Festakt machen wollen. Und so sprechen weder Özdemir, Schwarz oder Hagel. Und Angela Merkel kommt auch nicht.