„Who the hell is Dora?” Die Frage stand auf zahlreichen Plakaten im Stadtraum von Stuttgart und ist jetzt beantwortet. Es ist die neue Oper von Bernhard Lang, für das der Schriftsteller Frank Witzel das Libretto geschrieben hat. In dem Auftragswerk der Staatsoper Stuttgart lässt sich die weibliche Titelfigur als revoltierende junge Frau mit dem unerkannten Teufel ein, um den beklemmend spießigen Verhältnissen im Elternhaus zu entkommen – ein faustisches Hochgeschwindigkeitsdrama mit weiblicher Perspektive, inszeniert von Elisabeth Stöppler und geleitet von Elena Schwarz.
„Who the hell is Dora?”
Endlich wissen wir, wer Dora ist. „Who the hell is Dora?” – mit dieser Frage erzeugte die Staatsoper Stuttgart auf Plakaten zu Recht die größtmögliche Aufmerksamkeit für die Uraufführung der neuen Oper des Komponisten Bernard Lang mit einem Libretto von Frank Witzel. Denn „Dora“ ist ein grandioses neues Musiktheater geworden.
Ein „Frauen-Faust“ in Stuttgart
Alles ist kleinbürgerlich verrottet. Um dieser Welt zu entkommen, beschwört Dora den Teufel. Der ist zunächst unerkannt ein schmieriger Bürokrat mit Aktentasche. Nach und nach entpuppt er sich als jene Kraft, die stets das Böse will und nie das Gute schafft.
Erst am Ende tritt er im legendären Mephisto-Kostüm von Gustav Gründgens auf mit der typischen Fasanenfeder am Hut. Der Schauplatz in Frank Witzels anspielungsreichem Libretto ist der Gründgenspark, den es in Wirklichkeit natürlich gar nicht gibt. Damit ist klar: Hier wird ein „Frauen-Faust“ erzählt.
Oper thematisiert Hass auf die postindustrielle Landschaft
Dora trifft auf den Teufel, paktiert mit ihm und das geht schlecht aus, vor allem für ihren vom Liebeskummer erfüllten Freund Berthold. Er landet im Rollstuhl nach einem verkappten Ertränkungsversuch mit Schlittschuhen im Sommer. Die Folge: heftiger Sprachzerfall. Ein dystopischer Kommentar dieser Meta-Oper: Die Sprache stirbt, die Musik lebt.
Der Untergang ist von Anfang an vorprogrammiert. Nach einem einleitenden Schlagzeuggewitter erklingen die ersten Bläser-Akkorde aus Wagners „Götterdämmerung“ und mit dem mörderischen Eingangszitat aus Strauss „Elektra“ besingt Dora ihren Hass auf die postindustrielle Landschaft, in die sie schicksalhaft geworfen ist.
Meisterhaftes Spiel mit musikalischen Übermalungen
Rasant geht es zur Sache mit einer Zeitreise durch die Mythologie und Geschichte des Operntheaters. Dafür ist Bernhard Lang der richtige Komponist. Das elektronisch verstärkte Orchester hat Beat, der Text ist dank der von Rap- und Loop-Technik angeregten Artikulation absolut verständlich.
Meisterhaft ist das Spiel der musikalischen Übermalungen. Die Partitur sprüht über in einem Assoziationsspiel musikalischer Collagen quer durch die Operngeschichte.
Das reicht von Gounods „Faust“ und Wagners „Ring“, über Strauss' „Elektra“ und „Rosenkavalier“ bis zu Verdis „Otello“ und Schuberts „Winterreise“, immer passend zu den Textfantasien in Frank Witzels Libretto.
Hochmusikalisch choreografierte Inszenierung
Elisabeth Stöppler knüpft mit einer hochmusikalisch choreografierten Inszenierung und einer surrealistischen Bilderwelt an diese Verfahren der Musik an.
Mit den Kostümen von Valentin Köhler tritt der Solisten-Chor als Vogelmenschen in Erscheinung und wie in einem Gemälde von Hieronymus Bosch wandern riesige Ohren auf Beinen durch die Galerien des Bühnenraums.
Sensationeller Teufel, brillante Dora
Marcel Beekmann ist ein sensationeller Teufel, ein Ausnahme-Sängerdarsteller der Sonderklasse. Fast schon rollenunüblich für den bösen Feind, klettert er mit dem hochgelagerten Tenor des Haute-Contre mühelos in die höchsten Höhen des Falsetts und gibt die Personifikation des Bösen als lustige Figur.
Und dann ist da noch Dora, die Anti-Heldin, eine Brünnhilde für die Nach-Moderne des 21. Jahrhunderts. Mit dunkel bebender Energie und souverän explodierenden Sopranhöhen ist es der Abend von Josefine Feiler. Eine alles mit sich reißende Tour de Force. Einfach brillant.
Ohne Kritik: Ein teuflisch guter Opernabend
Am Pult des Staatsorchesters hält Elena Schwarz dieses großartige neue Musiktheater mit einem perfekt aufeinander abgestimmten Ensemble und den Neuen Vocalsolisten als Solistenchor souverän zusammen. Wer diesen teuflisch guten Opernabend verpasst, ist selbst schuld.
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