Island gilt als das sicherste Land der Welt. Und doch schreiben viele seiner Autorinnen und Autoren über Mord und Totschlag. Die Krimiszene des Landes ist so aktiv wie seine Vulkane. Schuld daran ist auch Lilja Sigurðardóttir und ihre neue Krimiserie.
„Das hier ist mein Schreibzimmer. Hier herrscht das totale Chaos. Aber das hier ist Malinche. Sie ist mein Ghostwriter.“
In einer kleinen, viereckigen Vitrine auf Lilja Sigurðardóttirs Schreibtisch sitzt ein Totenkopf. Ein menschlicher Schädel aus dem 16. Jahrhundert. Ein Geschenk ihres Vaters, der als Historiker länger in Mexiko forschte.
„Der stammt aus einer Kirche in Mexiko-Stadt. Sie haben dort den Fußboden ausgetauscht. Mein Vater fragte: „Was macht ihr da?“ Die einheimischen Arbeiter sagten: „Wir räumen die Knochen weg, weil wir den Boden reparieren. Willst du einen?“ Sie warfen einen Schädel hoch und mein Vater fing ihn auf. Seitdem ist er der gute Geist unserer Familie. Ich bekomme von ihm viel positive Energie. Er sitzt auf meinem Tisch und schaut mir beim Schreiben zu.“
Ein Totenkopf inmitten der Idylle – so lassen sich auch Lilja Sigurðardóttirs Krimis lesen. Gemeinsam mit ihrer Familie, einer Handvoll Hühner und ihrem Hund Dr. Arni wohnt die Autorin heute an einem See, rund 30 Autominuten östlich von Reykjavik. Am Horizont leuchten schneebedeckte Berge.
„In Island leben wir in einer Gesellschaft, die von außen betrachtet sehr gut aussieht. Aber es gibt auch dunkle Ecken. […] Und ich finde, der Kriminalroman ist ein gutes Mittel, um die Schattenseiten einer Gesellschaft zu betrachten.“
In ihrer neuen Krimi-Serie widmet sich die Autorin so unbequemen Themen wie Wirtschaftskriminalität und Gewalt gegen Frauen. Heldin der Romane ist Áróra Jónsdóttir, eine britisch-isländische Detektivin, die sich auf Finanzbetrug spezialisiert hat. Doch bald muss sie nicht nur verstecktes Geld suchen, sondern auch ihre Schwester, denn die verschwindet plötzlich.
„Es gibt eine Menge Wirtschaftskriminalität. Es gibt viel sexuelle Gewalt. Es gibt viel Gewalt gegen Frauen. Es gibt ein großes Drogenproblem. Es gibt so viele Dinge in Island, von denen man im Ausland nichts weiß. […] Schusswaffen hingegen gibt es hier kaum. Die findet man in isländischer Kriminalliteratur deshalb so gut wie nie.“
„Höllenkalt“, Teil eins der Serie, spielt im ewigen Licht des isländischen Sommers. Eine Zeit, in der die Sonne nie untergeht. Die Autorin verzichtet damit bewusst auf die Dunkelheit, die in vielen anderen nordischen Krimis für Atmosphäre sorgt.
„Ich wollte versuchen, diese Jahreszeit in Island zu begreifen. Der ewige Tag - zu dieser Zeit des Jahres wird jeder ein bisschen komisch. Man hat wahnsinnig viel Energie.“
Ein Schachzug, der „Höllenkalt“ zu einem besonderen und unterhaltsamen Krimi macht. Denn „ein bisschen komisch“ sind auch Sigurðardóttirs Figuren. Ob Täter, Held oder Nebendarsteller – in „Höllenkalt“ haben alle dunkle Seiten und obsessive Tendenzen. Sie wälzen sich in Geld, rasieren sich mehrmals pro Tag oder jäten nachts Unkraut.
„Ich mag keine Figuren, die nur gut oder böse sind. Jeder hat eine dunkle Seite. Das finde ich interessant. Ich bin kein großer Agatha-Christie-Fan. Ich bin eher der Patricia-Highsmith-Typ. Mich interessieren die Grautöne.“
Entsprechend ungewöhnlich ist auch Lilja Sigurðardóttirs Hobby.
„Zur Entspannung bastle ich kleine isländische Häuser. Ich gebe dir eins mit.“
„Oh, that's very nice. Thank you!”
„So benutze ich meine Hände auch mal, nachdem ich den ganzen Tag mit dem Kopf gearbeitet habe. Ich kann nicht stricken. Ich bin wahrscheinlich die einzige isländische Frau, die nicht strickt. Also bastle ich diese winzigen Holzhäuschen.“
In „Höllenkalt“ spielen die Lavalandschaften rings um Reykjavik eine entscheidende Rolle. „Blutrot“ hingegen, Teil zwei, spielt vor allem in den wohlhabenden Vororten der isländischen Hauptstadt. Neben Finanzexpertin Áróra tauchen hier weitere Figuren auf, die Leser bereits aus „Höllenkalt“ kennen. Unter anderem Áróras Sidekick, ein Unkraut-hassender Polizeikommissar und seine charismatische Nachbarin, eine Dragqueen. Doch der Fall, den die Ermittler lösen müssen, ist natürlich neu.
„Ich habe mich von einem ungelösten norwegischen Kriminalfall inspirieren lassen, dem Fall Hagen. Es geht um eine Entführung. Die Frau eines wohlhabenden Geschäftsmannes verschwindet eines Tages aus der Küche und auf dem Küchentisch liegt eine Lösegeldforderung.“
Wie in „Höllenkalt“ gibt Sigurðardóttir dem Privat-und Liebesleben ihrer Figuren viel Raum. Und wie in Teil eins werden die Kapitel abwechselnd aus der Sicht verschiedener Figuren erzählt. Als Leser hat man so das Gefühl, gemeinsam mit den Ermittlern am Fall zu arbeiten und Stück für Stück die Puzzleteile zusammenzufügen.
Nur wirklich „isländisch“ fühlt sich „Blutrot“ nicht an. Das mag auch daran liegen, dass Landschaften und Wetter der Insel in diesem Roman keine Rolle spielen. Deswegen wünscht man sich am Ende das ewige Licht des isländischen Sommers aus „Höllenkalt“ zurück, oder einen Schneesturm, um die Geschichte eindeutig am Polarkreis zu verorten.
Doch wer Englisch liest und schon mal in Band drei der Serie schaut, dem wird klar: Kälte und Schnee haben sich Lilja Sigurðardóttir und ihr Ghostwriter Malinche für Teil drei aufgehoben. Der heißt „Schneeweiss“ und erscheint im Juni.
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