Als Yuval Noah Harari vor ein paar Monaten bei Stephen Colbert zu Gast war, in einer der populärsten Late Night Shows im US-Fernsehen, da wurde er gefragt, was er denn nun eigentlich für ein Wissenschaftler sei. Er beschäftige sich doch schließlich mit allem, stichelte Colbert.
Harari konterte souverän: Ganz einfach, er sei Historiker. Allerdings studiere er nicht die Vergangenheit, sondern eher, wie sich Dinge veränderten – und was sich daraus für unsere Gegenwart und Zukunft lernen lasse. Ein Transformationswissenschaftler mit prophetischem Pathos also. Soviel zum Selbstverständnis des israelischen Historikers.
Harari warnt vor der KI-Revolution
Dieses Selbstbewusstsein trägt auch Hararis neustes Sachbuch: „Nexus“. Darin verfolgt er erklärtermaßen das Ziel, „der KI-Revolution in unseren aktuellen politischen Debatte mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen“. Aber Harari wäre nicht Harari, wenn er dazu nicht auch noch eine Geschichte erzählen würde.
In diesem Fall die „Geschichte der Informationsnetzwerke“. Und zwar von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz, von A bis Z also, darunter tut er’s nicht. Garniert allerdings mit einem Versprechen, das er schon in seinem ersten Bestseller gegeben hat. Wie damals seine „Geschichte der Menschheit“, so soll auch diese Geschichte wieder „kurz“ sein. Einmal alles, auf nur 600 Seiten.
So kurz fühlt sich das beim Lesen dann aber gar nicht an. Zumindest auf den ersten etwa 200 Seiten. Harari braucht nämlich ziemlich lange für eine ziemlich simple Pointe. Entwicklungen in der Informationstechnologie führen nicht automatisch zu mehr Fortschritt. Sie können auch neue Probleme erzeugen.
Technologie ist kein Garant für gesellschaftlichen Fortschritt
Beispiel Buchdruck: ein revolutionäres Instrument, mit dem sich Information und Wissen so schnell verbreiten ließen wie nie zuvor in der Geschichte. Ein entscheidender Schritt zur Aufklärung der Massen, denkt man. Nach Harari machte die Erfindung des Buchdrucks zunächst aber vor allem eines möglich: einen Bestseller wie den „Hexenhammer“.
Sowas wie der spätmittelalterliche Standard-Ratgeber zum Thema Hexerei, der in Europa einen wahren Hexenverfolgungs-Boom auslöste. „Es wäre übertrieben zu behaupten, die Erfindung des Buchdrucks sei schuld an der europäischen Hexenjagd“, konstatiert Harari, „doch die Druckerpresse spielte eine entscheidende Rolle bei der raschen Verbreitung des Glaubens an eine weltweite satanische Verschwörung.“
Soziale Medien als Umschlagplatz für Hass und Falschinformation
Nicht umsonst erinnert dieser Fall an das Internet im Allgemeinen und die Sozialen Medien im Besonderen. Glaubten deren Vordenker noch an die einmalige Möglichkeit, uns alle vernetzen und Wissen frei zugänglich machen zu können, erscheinen diese Plattformen heute eher als Umschlagplatz für Hass und Verschwörungstheorien, befeuert durch Algorithmen, die solche Inhalte auch noch adeln, weil sie Emotionen und damit Nutzerbindung garantieren. Anmerkung des Historikers dazu:
Anders gesagt: Blindes Technologievertrauen ist falsch – wir müssen erstmal lernen, neue Informationsnetzwerke zu kontrollieren. Eine weitere recht triviale These, der Harari auf etwa 400 Seiten entgegenschneckt. Und man fragt sich beim Lesen schon, wen er hier eigentlich noch bekehren möchte. Wer ist dieser liebesblinde Technophile, für den er diese Geschichte erzählt?
Harari bezeichnet Fortschrittsglauben als naiv
Eine mögliche Antwort findet sich im Epilog. Dort berichtet Harari, er habe sich in den letzten Jahren mit einigen „weltweit anerkannten Persönlichkeiten“ unterhalten, namentlich Politikern und Unternehmensbossen. Es sei deren naiver Fortschrittsglaube gewesen, der ihn zum Schreiben motiviert habe. Immerhin hat mit der KI eine ganz neue, eben revolutionäre Informationstechnologie die Bühne der Weltgeschichte betreten, meint Harari.
Ihr katastrophisches Potenzial dürfe man keinesfalls unterschätzen. Zumal angesichts der Rasanz der technologischen Entwicklung. „In ihrer Evolution konnten Computer die Strecke von der Amöbe bis zum T-Rex innerhalb eines einzigen Jahrzehnts zurücklegen. Wenn GPT-4 die Amöbe ist, wie wird dann erst der T-Rex aussehen?“, fragt der Historiker suggestiv. Und kommt zu dem Schluss: Höchste Zeit, dass es eine politische Debatte darüber gibt, wie wir diese T-Rexes in Spe zähmen wollen.
Am Ende kann „Nexus“ nicht überzeugen
Diese Forderung ist natürlich nur recht und billig. Zu einem guten Buch macht sie „Nexus“ allerdings nicht. Aus der Flughöhe des Universalhistorikers ist eben nur noch das Allergröbste erkennbar. Und das lässt sich auf so einfache und triviale Formeln bringen, dass völlig unklar ist, wieso man dazu noch eine derart lange Geschichte erzählen muss. Weit ausgeholt, kurz gesprungen.
Wenn hier etwas wirklich diskutabel ist, dann eher der unreflektierte Berg an Metaphysik, den Harari mit sich herumschleppt. Auch nichts, was das Vertrauen in diesen Text stärkt. Da wäre zum Beispiel sein reduktionistisches Menschenbild, das uns in die Nähe jener Algorithmen rückt, die uns in Zukunft den Rang ablaufen sollen. Aus dieser Perspektive liegt das natürlich nicht fern. Wie plausibel dieses Menschenbild allerdings ist – nun, das wäre eine interessante Frage gewesen.