Kooperation statt Individualismus
"Homo Deus" beginnt überraschend optimistisch. Yuval Noah Harari spricht nicht von Kriegen, Krisen oder Populisten, sondern davon, wie es der Menschheit gelungen ist, die Nöte und Schrecken, die sie Zehntausende von Jahren begleitet haben – Hunger, Seuchen, Gewalt – zu bannen.
Worin begründet sich die Erfolgsgeschichte des Menschen? Die besonderen Qualitäten, die unserer Gattung die Dominanz auf dem Planeten Erde verschafft haben, sind nicht auf der Ebene des Individuums festzumachen. Viele Tiere haben Fähigkeiten und Sinnesorgane, mit denen sie uns übertreffen.
Der Mensch aber ist allen Tieren überlegen als soziales Wesen. Er entwickelt hochkomplexe Formen der Kooperation, der kollektiven Imaginationen und der symbolischen Ordnung, er webt Geschichten über Götter und Geld, Nationen und Unternehmen. Ohne solche allgemein akzeptierten Geschichten und kollektiven Glaubenssysteme könnte die menschliche Gesellschaft nicht funktionieren, legt Harari dar.
Dataismus und Algorithmus
Heute liege die heiße religiöse Zone nicht in Israel oder Mekka, in Rom oder auf dem Territorium des Islamischen Staates, sondern im Tal zu Silicon. Den neuen Glauben, an dem dort gearbeitet wird, nennt Harari Dataismus. Er werde das unsere Gegenwart immer noch bestimmende Glaubenssystem des Humanismus ablösen. Denn Individualismus, Seele, freier Wille – alle diese humanistischen Größen seien inzwischen schon gestürzt durch die Entwicklung der Biowissenschaften; viele haben es bloß noch nicht mitbekommen oder wollen es nicht wahrhaben.
einIn faszinierenden und ausführlichen Kapiteln rekapituliert der Autor die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die das Bild vom Menschen umstülpen. "Algorithmus" heißt das Zauberwort. Organismen seien nichts als biologische Algorithmen.
Das Ich ist eine Einbildung
Zur Metaphysik des Liberalismus gehört der freie Wille. Harari führt nun zahlreiche biowissenschaftliche Experimente an, die triftig beweisen, dass wir nicht Herren im Haus unseres Hirns sind, dass die Selbstwahrnehmung oft so trügerisch ist wie die Erinnerungen, die die Identität des (vermeintlichen) Individuums zusammenhalten. Tatsächlich unterliegen Erinnerungen vielen unbewussten Fälschungen, werden ad hoc konstruiert und ständig verändert. Überhaupt das Bewusstsein – es wird von Harari ziemlich despektierlich abgetan.
Sicher, da ist ironische Übertreibung im Spiel, was den Grundbefund aber nicht ändert: Das Ich ist eine Einbildung. In seinem Übermut meint es, bei ihm liefen die Fäden zusammen und es würde den ganzen Laden steuern.
Viel Vergangenheit, wenig Zukunft
Harari betreibt fröhliche Wissenschaft. Über weite Strecken hat man das Gefühl, einer geistreichen und gewitzten Plauderei zu folgen. Der Argumentationsgang des Buches ist bisweilen allerdings nicht leicht nachzuvollziehen, denn der Autor holt sehr weit aus und ergeht sich in vielen Abschweifungen.
Vier Fünftel dieser "Geschichte von Morgen" sind der Analyse der Vergangenheit und Gegenwart gewidmet. Erst auf den letzten hundert Seiten ertönt die lang vorbereitete Zukunftsmusik. Und die klingt so: Der Mensch hat eine Geschichte wachsender Selbstermächtigung vollzogen; er ist zum "Homo Deus" geworden. Um nun allerdings zum Auslaufmodell zu werden.
Der Versuch, den humanistischen Traum zu verwirklichen, hat wissenschaftliche Kräfte erzeugt, die posthumanistische Technologien entfesseln. Die künstliche Intelligenz wird uns eines Tages so überlegen sein, dass wir entbehrlich werden. Viele Menschen finden bald keinen sinnvollen Platz mehr in der Gesellschaft, sie und ihre Fähigkeiten werden nicht mehr gebraucht, zum Beispiel, Verkäufer, Taxi- und Lastwagenfahrer oder Reisebürokaufleute – allesamt Berufe, die der Automatisierung zum Opfer fallen werden.
Amazon führt gerade Läden ein, in denen es keine Kassen mehr gibt und wo die Regale von Robotern aufgefüllt werden. Selbstfahrende Autos sind ein großes Thema und für alle, die nicht viel können außer Auto fahren, ein Horrorszenario.
Wenn Maschinen den Menschen überlegen sind
Wenn jedes Lebewesen eine Ansammlung mathematischer Muster, organischer Algorithmen und biochemischer Systeme ist, die sich im Lauf der Evolution entwickelten, dann erscheint es nur logisch, dass die technische Entwicklung irgendwann Algorithmen erzeugen wird, die den Menschen viel besser verstehen als der sich selbst. Wenn die Maschinen mit immer mehr Daten über unsere Körperfunktionen, unsere Gewohnheiten, unser Kaufverhalten, unsere Ortsveränderungen, unsere Kontakte etc. gefüttert werden, dann können sie irgendwann besser für uns entscheiden als wir selbst.
Der Liberalismus, schreibt Harari, werde "an dem Tag zusammenbrechen, an dem das System mich besser kennt als ich mich selbst". Es ist der Übergang vom homozentrischen zum datazentrischen Weltbild.
Die Menschheit der Zukunft wird zerfallen in den Homo Deus und den Homo nutzlos. Hier die rundum optimierten Superreichen, die über die technische Entwicklung verfügen, dazu einige hochkompetente Dienstleister – dort die Mehrheit der Überflüssigen, die womöglich aus bloßer Menschenfreundlichkeit mit dem Lebensnotwendigen sowie mit Drogen und Spielen zum Zeitvertreib versorgt werden.
Ob die Werte der Gleichheit, der Menschenrechte und des Humanismus in dieser schönen neuen Welt aber überhaupt noch aufrecht zu halten sein werden – das ist eine der beklemmendsten Fragen, die Harari stellt. Denn historisch waren diese Werte mit der gesellschaftlichen Nützlichkeit verbunden.
Der Wert des Menschen besteht in seiner Nützlichkeit
Mag sein, dass Harari die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz zumindest der nächsten Jahrzehnte überschätzt und ein wenig zu sehr ins Fabulieren gerät. Aber vieles, was er düster ausmalt, ist gegenwärtig schon zu spüren. Haben nicht in den Vereinigten Staaten gerade die Ausgemusterten und Deklassierten in einer Protestwahl auf sich aufmerksam gemacht?
Historische Entwicklungen weiter gedacht
Ein gewisses Misstrauen gegenüber Hararis flotter Interdisziplinarität ist sicher angebracht. Andererseits ist er dafür zu loben, dass er über die Reviergrenzen des Historikers hinausblickt. Dieser Autor ist ein Spezialist für weiträumige historische Entwicklungen; er versteht es, Bekanntes mit ganz neuen Augen zu sehen und in ungewohnte Perspektiven der Veränderung zu rücken.
Widerspruch ist durchaus gestattet, denn Yuval Noah Harari versteht sein Szenario nicht als Prognose, sondern als Darlegung von Möglichkeiten. Es muss nicht so kommen. Aber allein die Denkmöglichkeit ist faszinierend und irritierend genug. Es ist konsequent gedacht, was Harari an die Wand malt. Das macht dieses ein wenig chaotisch strukturierte Buch zur überaus anregenden und fesselnden Lektüre.