Buchkritik

Margaret Atwood – Hier kommen wir nicht lebend raus

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Einen Erzähl-Zyklus und ein Sammelsurium an Geschichten – das bietet der neue Band der bedeutenden kanadischen Autorin Margaret Atwood. „Hier kommen wir nicht lebend raus“ handelt vom Älterwerden und vom Abschied, aber auch leutselige Aliens kommen zu Wort und eine Schnecke, deren Seele sich in eine Frau verirrt hat.

Die gesamte Bandbreite von Atwoods Werk

Margaret Atwoods neuer Kurzgeschichten-Band – die erste Story-Sammlung seit 2014 – enthält eigentlich gleich mehrere Bücher: Es gibt da einen langen, zweiteiligen Zyklus mit Texten um das Paar „Tig und Nell“ – und dazwischen stehen acht weitere, bunt zusammengewürfelte Erzählungen, die weder formal noch inhaltlich viel miteinanderverbindet.

Die gesamte Bandbreite von Atwoods Werk ist in „Hier kommen wir nicht lebend raus“ abgedeckt: dem Realismus verpflichtete Texte, Science-Fiction (Atwood spricht lieber von „spekulativem Schreiben“), eine postapokalyptische Miniatur, ein Plausch mit George Orwell, eine Lockdown-Episode, eine Kafka-Paraphrase; es geht um Identität und Feminismus, um die Krisen der Gegenwart und die allgegenwärtige Vergangenheit.

Der Titel deutet an, was sich als Leitmotiv durch viele der Short Storys schlängelt: Wie lässt sich das Leben angesichts der eigenen Vergänglichkeit und des Verlusts von geliebten Menschen ertragen? Wie geht man als älter werdender Mensch damit um, dass die Reflexionen über das Verschwundene so viel mehr Raum einnehmen als jene über das Jetzt oder gar die Zukunft?

Niemand kennt den Ausgang. Der zu Recht so heißt. Alle müssen irgendwann hindurch. Und niemand kommt zurück. ‚Hier kommen wir nicht lebend raus‘, hatte Tig früher immer gewitzelt, obwohl es kein Witz war.

Nell und Tig sind ein älteres, innig verbundenes Paar. In der ersten Geschichte erinnert sich Nell an einen Erste-Hilfe-Kurs, Vorbereitung auf eine Kreuzfahrt, bei der sie Vorträge über Naturthemen halten und sich im Notfall auch um ohnmächtig oder seekrank werdende Passagiere kümmern sollen, die meisten um einiges älter als sie selbst.

Es sind die späten 80er Jahre, und die Erinnerung an den kauzigen, für alle Lebenslagen gerüsteten Rettungssanitäter Mr. Foote, der sie unterrichtet, hat etwas äußerst Erheiterndes. Der Kurs setzt zugleich Gedanken an „lebensbedrohliche Erlebnisse“ in Gang, eine ironische Bestandsaufnahme des gemeinsamen Lebens, das doch immerzu ziemlich glimpflich und glücklich verlaufen ist. Nell kommt dabei eben jener Satz in den Sinn: „Hier kommen wir nicht lebend raus“. Ja, ein Witz, aber einer der trifft und zugleich dabei hilft, mit der gar nicht so witzigen Unausweichlichkeit des Todes zurecht zu kommen.

Kryptische Botschaften der Toten

Atwood erzeugt immer wieder solche kleinen Räume, in denen man trotz allen Schreckens Luft holen und Trost finden kann. Selbst als Nell im zweiten Teil dieses Zyklus tatsächlich alleine ist. Tig ist gestorben. Für Nell aber scheint er gar nicht weg zu sein. Sie spricht mit ihm, er spricht zu ihr, und manchmal scheint er ihr Nachrichten zukommen zu lassen – in Form von Zetteln, die er irgendwann geschrieben hat und die unversehens irgendwo auftauchen.

Sie streicht den Zettel vorsichtig glatt und verstaut ihn in ihrem Koffer. Es ist eine Botschaft, die Tig für sie hinterlegt hat. Magisches Denken, das weiß Nell genau, aber sie gönnt es sich trotzdem, weil es tröstend ist. (…) Was macht man mit diesen kryptischen Botschaften der Toten?

Mit den Toten ist es eine merkwürdige Sache: Obwohl verschwunden, beanspruchen sie Zeit und Raum. In einer Geschichte entdeckt Nell einen Brief im Nachlass von Tigs Vater, den alle den „Lustigen Alten Brigadegeneral" genannt haben, den L.A.B.

Der Brief stammt von der berühmten Kriegsreporterin Martha Gellhorn, und dieser unerwartete Fund setzt nicht nur eine Recherche über das Leben des L.A.B. in Gang, ein Gedankenspiel über diese rätselhafte Episode mitten im Zweiten Weltkrieg, als Tigs Vater längst verheiratet war, aber möglicherweise eine romantische Begegnung mit Martha Gellhorn hatte. Sogar Gedichte hat der „Lustige Alte Brigadegeneral" geschrieben, auch die entdeckt Nell in einer Mappe mit der Aufschrift „Vaters Gedichte“.

Also hat Tig diese Gedichte gelesen, die sein Vater geschrieben hatte. Was hatte er gedacht? Als sie sie selbst liest, kann sich Nell kein rechtes Bild machen. Die Entdeckung eines vergrabenen Schatzes? Ein Eingriff in die Privatsphäre? Es hat immer etwas Heimtückisches, dieses Ausspionieren der Toten.

Was weiß man über die Lebenden, und was können einem die Toten noch von sich verraten? Margaret Atwood hat ein genaues Gespür für die Fragen, Zweifel und Wunderlichkeiten; sie ist unsentimental und manchmal ironisch, aber das erzeugt eine noch größere Nähe zu den Trauernden, zu Nell, den anderen älteren Frauen und Witwen in diesen Texten.

Ihr Buch ist unter anderem Graeme Gibson gewidmet, dem kanadischen Schriftsteller und Ornithologen, mit dem Atwood 45 Jahre lang verheiratet war und der vor fünf Jahren starb. Man darf vermuten, dass Tig und Nell viele autobiographische Züge tragen.

Charme und Witz

Die Verbindung zum Jenseits spielt auch in einem ebenfalls in den Band aufgenommenen Text eine Rolle: In „Interview mit einem Toten“ versucht die Erzählerin dem großen Dystopisten George Orwell unsere Zeit näher zu bringen, eine allerdings etwas vorhersehbare Gesprächs-Fantasie, in der auch die Corona-Krise zur Sprache kommt.

Apropos Corona: Csilla und Lynne in der Erzählung „Schlechte Zähne“ treffen sich während der Pandemie regelmäßig im Garten der einen oder anderen. Csilla hat einen Hang zu erfundenen und provokanten Geschichten. Sie schreibt an einem Buch. Und behauptet, Lynne habe vor etlichen Jahren eine Affäre mit einem Journalisten gehabt, dessen hervorstechendstes Merkmal seine schlechten Zähne gewesen seien. Lynne zweifelt kurz an ihrem Erinnerungsvermögen, ist dann aber sicher, dass sich Csilla alles ausgedacht hat. Eigentlich Grund für ein Zerwürfnis.

Aber kann denn Lynne ihr allen Ernstes so böse sein? Böse genug, um den Kontakt mit Csilla abzubrechen? Sie ist zu alt für finale Szenen und Türenknallen, sie schafft es nicht mehr, die angemessene Selbstgerechtigkeit und Empörung aufzubringen. Du bist für mich gestorben, das wär’s, was die jüngere Generation vielleicht sagen würde. Aber Csilla ist für sie alles andere als tot.

Im Alter relativiert sich alles, und die Schrullen der anderen werden mit Wohlwollen übergangen. Alle Storys haben eine Klugheit und Raffinesse, Charme und Witz und einen besonderen erzählerischen Dreh, aber nicht alle sind so eindrücklich wie jene über „Nell und Tig“.

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Eine große Leseempfehlung

Manche hätte Atwood weglassen können, sie hätte dem Band dadurch eine größere Stringenz verliehen. Dazu gehört „Ungeduldige Griseldis“, die Geschichte eines krakenartigen Aliens, der zu verschreckten Menschen spricht. Oder „Metempsychose oder: Seelenwanderung“, in der eine arme Schnecke, die sich gerade an einem Salatblatt gütlich tut, dem Einsatz von Bio-Pflanzengift zum Opfer fällt.

Meine klitzekleine Schneckenseele, eine durchscheinende Spirale aus sanft phosphoreszierendem Licht, schoss in die Luft – in die Geisterwelt, wo etwas andere Regeln herrschen, müsst ihr verstehen – und bahnte sich ihren Weg durch irisierende Regenbogenwolken und klimpernde Glöckchen und das Theremin-Gejammer dieser Regionen, um geradewegs im Körper einer Angestellten (mittleres Management) im Kundendienst einer namhaften Bank zu landen.

Eine Frau, die sich in die Schneckenhaut zurücksehnt, muss allerhand allzu Menschliches durchleiden – Kafkas „Verwandlung“ verkehrt herum, ein bisschen zu sehr auf Effekt geschrieben. Mäkeleien auf hohem Niveau: Weil Margaret Atwood selbst in ihren schwächeren Texten noch schillernde und erkenntnisstiftende Sätze gelingen, souverän übersetzt von Monika Baark, ist „Hier kommen wir nicht lebend raus“ eine große Leseempfehlung.

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