Er ist ein Meister der Kurzgeschichte. Romane sind bei ihm Nebensache. Mit altmeisterlichem Formbewusstsein hat der US-Schriftsteller die Zukunft der Short Story im Blick – und verbindet auch in seinem neuen Band „Tag der Befreiung“ die Experimentierfreude mit hoher sozialer Erzählmoral.
Für manche ist George Saunders der amtierende Weltmeister der Kurzgeschichte. Bei ihm ist jede Erzählung ein liebevoll und mit höchstem Formbewusstsein gearbeitetes Werkstück. Seine neue Sammlung „Tag der Befreiung“ beweist aber auch, dass Saunders die formale Experimentierfreude mit hoher sozialer Erzählmoral verbindet. So verschieden die Themen seiner Geschichten auch sind – immer schlägt sein Erzähler-Herz für die Benachteiligten und Gedemütigten.
Büro-Intrige mit Kaffeekapseln
Beispielhaft zeigt das „Eine Sache auf der Arbeit“, die Geschichte einer Büro-Intrige. Drei Perspektiven stehen hier gegeneinander. Da ist die ehrgeizige, etwas arrogante Genevieve, die ihren Mann während der Arbeitszeit mit einem Kollegen im nahen Hotel betrügt.
Sie blickt herab auf die mollige Brenda aus eher prekären Verhältnissen, die in der Firma die Drecksarbeit erledigt und gelegentlich Kaffeekapseln mitgehen lässt. Und dann ist da noch Chef Tim, der Konflikten lieber aus dem Weg geht, sich aber als guter Mensch fühlen möchte und deshalb Brenda nach ihrem kleinen, nun ja, Gefängnisaufenthalt eingestellt hat. Als Genevieve über Brenda ablästert, macht er nicht mit:
Bissige Komödie mit psychologischer Tiefenschärfe
Wie diese drei Menschen sich einschätzen und abschätzen, wie sie übereinander denken und herziehen, wie Genevieve Brenda wegen der kleinen Diebstähle denunziert, Brenda im Gegenzug Genevieves firmenfinanzierte Liebesfreuden verrät und Tim schließlich eine Lösung für den Konflikt findet, die naturgemäß auf Kosten der Schwächsten geht – das erzählt Saunders als bissige Komödie. Erzählt es mit psychologischer Tiefenschärfe, in figurennaher, plastisch-drastischer Sprache, glänzend übersetzt von Frank Heibert.
Menschen als Apparaturen an der Wand
Zugespitzt wird die soziale Konfrontation in den drei dystopischen Erzählungen des Bandes. In der achtzigseitigen Titelgeschichte „Tag der Befreiung“ etwa werden Menschen als Apparaturen versklavt. Sie sind Accessoires der Wohlhabenden, werden in arrangierten Posen an die Wand gehängt, um als sogenannte „Künder“ zu dienen.
Ihre Identitäten sind gelöscht, stattdessen bekommen sie einen Bewusstseinsinput, den sie wie Sprechpuppen aufsagen. Mitten in der großen Show vor geladenen Gästen aber lässt der renitente Sohn des Hauses ein Befreiungskommando herein, das sich nicht von der Behauptung entwaffnen lässt, dass die „Künder“ einvernehmlich arbeiten würden:
Dieses „Ich“, das hier dazwischenfunkt, ist die Hauptfigur der Geschichte, der Künder Jeremy. Weil er sich in die Hausherrin verliebt hat, schlägt er sich auf die Seite seiner Unterdrücker und sabotiert die Aktion. Es ist ein altes Lied: Die Ausgebeuteten verweigern sich der Revolution, wollen sich partout nicht befreien lassen.
Diese Geschichte ist voller grotesker Einfälle, und sie entfaltet eine komplexe Psychologie des Herr-Knecht-Verhältnisses. Dennoch wirkt sie allzu ausgetüftelt und konstruiert. George Saunders hat uns so viel über die wirklichen Verstrickungen zwischen Menschen mitzuteilen, dass er sich eigentlich keine dystopischen Gleichnisse ausdenken muss, in denen ausgebeutete Menschen an Wänden hängen.
In den besten Geschichten dieses Bandes werden die inneren und äußeren Gefangenschaften, in denen Menschen feststecken, mit den Mitteln eines nuancierten Realismus deutlich genug.
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Seine Figuren hungern nach Normalität, aber die gibt es schon lange nicht mehr. In den Geschichten des US-Amerikaners ist immer Krise. Sein Stil ist bizarr, seine Weltauffassung rast zwischen gezielter Apokalyptik, moralischer Doppelbödigkeit und blitzschneller Aufheiterung hin und her. Wir gleiten durch extrem verzerrte Bewusstseinszustände, durch Rückkopplungsschleifen, ein Gewirr aus Gegenwart und Vergangenheit. Mit Empathie kommt man nicht weit. Eine Übung in Lockerlassen, Knobeln und radikaler Offenheit.
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George Saunders lehrt Kreatives Schreiben an der Universität von Syracuse. Hier führt er fragend durch sieben Erzählungen von russischen Meistern, von Tschechow bis Gogol. Das ist lehrreich, aber nie belehrend oder gar dünkelhaft. Stattdessen geschmeidig, witzig und eloquent.