Buchkritik

Natasha Trethewey – Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter

Stand
Autor/in
Claudia Fuchs

Die preisgekrönte amerikanische Lyrikerin Natasha Trethewey, deren afro-amerikanische Mutter 1985 von ihrem Ex-Mann ermordet wurde, möchte in ihrem autobiografischen Buch „Memorial Drive. Erinnerungen einer Tochter“ der Geschichte ihrer Mutter Bedeutung und Sinn geben.

„Erinnerungen einer Tochter“ ist der Untertitel von Natasha Tretheweys autobiografischem Buch „Memorial Drive“, das sie zum Gedenken an ihre Mutter Gwendolyn geschrieben hat. Zwei Grundfragen versucht sie hier zu beantworten: Wie verlässlich sind Erinnerungen? Und: Wer bin ich, wo gehöre ich hin?

Natasha Trethewey wird 1966 in eine sogenannte gemischtrassische Ehe geboren: Ihre Mutter ist eine Schwarze Amerikanerin, ihr Vater ein weißer Kanadier.

Was war ich? „Du hast das Beste von beiden Welten“, erklärten sie mir (…) Draußen in der Welt, mit nur einem von ihnen, begann ich ein tiefes Gefühl der Entwurzelung zu verspüren. Wenn ich mit meinem Vater unterwegs war, registrierte ich die höflichen Reaktionen von Weißen, die Art, wie sie ihn mit „Sir“ oder „Mister“ ansprachen. Meine Mutter dagegen nannten sie „Gal“, nie „Miss“ oder „Ma’am,“ wie es sich doch angeblich gehörte.

Eine Spurensuche nach der Schwarzen Mutter

Wer ist Natashas Mutter Gwendolyn? Auf dem Titelfoto des Buches lächelt eine attraktive Schwarze junge Frau mit einem hellhäutigen Baby im Arm über die Schulter in die Kamera. Die junge Mutter und Ehefrau hat gerade ihr Bachelor-Studium abgeschlossen.

Ihre Tochter Natasha wächst zunächst behütet in der Schwarzen Großfamilie der Mutter im ländlichen Mississippi auf. Natashas Vater setzt sich bald von der Familie ab und beginnt ein Promotionsstudium in New Orleans. Die Ehe der Eltern wird geschieden, als Natasha sechs Jahre alt ist.    

Spannend sind die Spuren, die die Autorin mit dem Quellenmaterial legt, das sie ihren Erinnerungen zur Seite stellt. Dabei folgt sie keiner strengen Chronologie. Fotos, Schallplatten, Telefonmitschnitte, Gerichtsakten und Aufzeichnungen der Mutter geben Raum für Vermutungen, die sich nicht immer mit den Bildern decken, die Trethewey auf 250 Seiten entwirft.

Aufbruch nach Atlanta

Anfang der 1970er Jahre, kurz nach der Scheidung, zieht die 28-jährige Gwendolyn mit ihrer Tochter in die Großstadt Atlanta. Tagsüber studiert sie Sozialarbeit, abends kellnert sie – inzwischen mit modischem Afro-Look - im unterirdischen Vergnügungsviertel der Stadt. Ein hautenger schwarzer Body und schwarze Jeans mit schwerem Patronengürtel gehören zur Dienstkleidung. Gwendolyn ist ehrgeizig, taff und gut organisiert. Die guten Schulnoten ihrer Tochter belohnt sie mit Geschenken.

Als sie wieder schwanger ist, heiratet sie den Schwarzen kriegstraumatisierten Vietnam-Veteranen Joel. Nach vielen Umzügen und Gwendolyns beruflichem Aufstieg wird der amerikanische Traum endlich wahr: Ein Haus am Stadtrand mit Swimmingpool. Aber das scheinbar intakte Familienleben hat Risse. Tochter Natasha geht auf Distanz zu ihrer Schwarzen Familie. Ihre väterlich geprägte bürgerliche Bildungswelt mit den Sagen des klassischen Altertums steht in scharfem Kontrast zur Musik der Blaxploitation-Filme im Drogenmilieu, die ihren Stiefvater Joel begeistert. Joel ist Hausmeister, ihr leiblicher Vater inzwischen Universitätsprofessor. Die Frage, wo sie hingehört, begleitet Trethewey bis heute.  

Mein Leben lang haben sich Leute gefragt, „was“ ich bin, welcher ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität. (…) Einmal, in einem Kaufhaus, war der weiße Verkäufer (…) zu ängstlich oder zu höflich, um zu fragen - (…) Ich beobachtete sein Gesicht, als er nach einem (…) Blick auf (…) mein glattes, feines Haar, meine Hautfarbe und meine Kleidung mit sich zurate ging. Er bezog wohl auch ein, wie ich sprach und ob irgendwelche dieser Faktoren seiner Vorstellung von bestimmten Menschen entsprachen – Schwarzen Menschen.

Gewalt in der Ehe

Natasha will früh Schriftstellerin werden. Sprache und Schreiben sind ihre Zuflucht vor den gewaltsamen Übergriffen ihres Stiefvaters gegen  ihre Mutter und sie selbst. Und auch die Mutter findet ein Ventil im Schreiben: „Letzte Worte“ betitelt die Autorin Gwendolyns Aufzeichnungen über ihre Ehe.

Ich wusste immer, dass ich aus meiner Ehe rauswollte. Sie gehörte zu den Dingen, zu denen es nie hätte kommen dürfen.  (…  ) Ich habe meinen Mann nie geliebt und hatte deswegen Schuldgefühle, darum stürzte ich mich in das Bemühen, die beste Hausfrau/Mutter und Arbeitskraft weit und breit zu sein. Er wusste, dass ich ihn nicht liebte …

Als Gwendolyn sich nach zehn qualvollen Ehejahren von Joel scheiden lässt, fühlt sich der kontrollsüchtige Kriegsveteran als betrogenes Opfer.  Am 5.Juni 1985 erschießt er seine Ex-Frau Gwendolyn. Nach heutiger Definition ein „Intim-Femizid“.

In kunstvollen erzählerischen Schleifen, Metaphern und Montagen von Erinnerungen und Aufzeichnungen kommt Natasha Trethewey zur Kernfrage: War der Tod der Mutter unausweichlich? Wie weit hat ihr eigenes Schweigen dazu beigetragen? „Sie hätten sie retten können“, schreibt Trethewey an die Polizei gerichtet. Aber so einfach ist es nicht, weil die Geschichte viel komplexer ist. Und genau deshalb ist dieses Buch über Rassismus, Klassenzugehörigkeit und die Folgen männlich-toxischerGewalt unbedingt empfehlenswert. 

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