„Das Publikum hat keine Ahnung“ – Eckhart Nickel erzählt in seinem Roman „Punk“ von einer Welt, in der die Musik verschwindet, aber eine kleine Widerstandsband im Geheimen probt.
Eine Welt ohne lärmende Gitarren und rotzigen Gesang muss für Eckhart Nickel ein Horrorszenario sein. In seinem neuen Roman „Punk“ erzählt er nämlich von einer seltsamen Kraft, die alles, was die Menschen „jemals unter Musik verstanden haben“, durch ein akustisches Nichts ersetzt.
Anfangs wissen die Leute nicht, wie sie die Veränderungen einschätzen sollen. Die Ausbreitung des merkwürdigen „Phänomens“ macht zunächst „den Eindruck einer Reihe zufälliger Ereignisse, die gar nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben mussten“.
Der weiße Lärm
Bald ist ein Name für die globale Klangvernichtung gefunden: „Der weiße Lärm“ wird der akustische Terror genannt, der auch politische Veränderungen zur Folge hat. Kleinste Hinweise auf Musik werden verboten. Im Mittelpunkt der dystopischen Rahmengeschichte, die in naher Zukunft angesiedelt ist, steht die Studentin und Ich-Erzählerin Karen, die gerade auf der Suche nach einer neuen Bleibe ist. Denn abgesehen vom „weißen Lärm“ geht das Leben einigermaßen normal weiter. Wobei die Normalität in diesem Roman grundsätzlich zur Disposition steht.
Tatsächlich geschieht in der anspielungsreichen Prosa nichts zufällig, sodass selbst die verrücktesten Wendungen einigermaßen plausibel erscheinen. Karen jedenfalls besichtigt ein Zimmer in der Wohnung der bizarren Brüder Ezra und Lambert. Nachdem die beiden ihre potenzielle Mitbewohnerin schon an der Wohnungstür penibel geprüft haben, betritt Karen ein Reich des Verbotenen.
Nur eine Band ist genial genug
Karen ist nicht nur ein Fan der britischen Band, die 1982 von dem Gitarristen Johnny Marr und dem Sänger Morrissey in Manchester gegründet wurde. Sie kennt sich auch gut aus in der Geschichte von Punk, Post-Punk, Rock und Independent. Und doch kann sie hier noch etwas lernen, beispielsweise über ein Lied, das ihren Namen trägt.
In einem schalldichten Extraraum lagern die wahren Plattenschätze, die hier ohne Angst vorm weißen Lärm und den Kontrolleuren der musikfeindlichen Behörden bewundert werden können.
Nerdtalk, der zum Nachhören animiert
Nickels Roman lebt auf vielen Seiten von einem Nerdtalk, der zum Nachhören animiert. Fast erstaunlich, dass es kein Verzeichnis aller erwähnten Titel und eine passende Playlist auf Spotify gibt. Ezra und Lambert suchen aber nicht nur eine Partnerin fürs gemeinsame Plattenauflegen. Sie wollen mit Karen, gewissermaßen als Protest gegen die musikarmen Zeiten, eine Punk-Band gründen. Und sie soll die Sängerin sein! Karens Sorge, sie treffe keinen Ton, entkräftet Ezra mit der nötigen Punk-Expertise.
Das Publikum hat keine Ahnung!
Aus der selbstbewusst-dilettantischen Haltung der Young Marble Giants haben Ezra und Lambert sogar ein Manifest mit den zehn Punk-Gesetzen entwickelt.
Lässig, lustig, elaboriert
Tatsächlich beginnt das neu gründete Punk-Trio mit der Arbeit an ersten Stücken, nimmt in der Badewanne auch Fotos fürs Cover des entstehenden Albums auf. Wer das Werk jemals kaufen oder gar hören soll, ist völlig unklar. Doch derlei Erwägungen spielen ohnehin keine Rolle.
Im geheimen Studio haust auch ein weißer Hase, der wie andere Merkwürdigkeiten dieser Story an „Alice im Wunderland“ erinnert, den Klassiker der Nonsens-Literatur. Die drei Widerstandsmusiker glauben sogar an einen Auftritt bei einem geheimnisvollen „Bewerb“, der angeblich vom „Ministerium für Unterhaltung“ ausgerichtet wird.
„Punk“ ist ein musikalisch-satirischer Lesespaß, in dem Logiklücken zum Stilprinzip gehören. In gewisser Weise folgt Eckhart Nickel damit den eigenen Punk-Kriterien. Nur dass am Schluss eben doch nicht egal ist, was auf den Buchseiten steht. Der Roman ist, wie alle Nickel-Texte, auf lässige und lustige Weise elaboriert. „Punk“ ist Eckhart Nickels dritter Roman.
Die dystopische Geschichte im Debüt „Hysteria“ – nämlich die genetische Manipulation von Lebensmitteln – ist im Vergleich zu „Punk“ deutlich unheimlicher. Wer das Buch gelesen hat, wird beim sommerlichen Marktbesuch immer an den Einstiegssatz denken: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“
Mit dem Folgeroman „Spitzweg“ hat Nickel einen rätselhaften und betont artifiziellen Künstlerroman vorgelegt. „Punk“ liest sich nun wie die Mischung aus beiden Büchern, nur dass jetzt die Musik im Mittelpunkt steht und die Tonlage eher heiter-überdreht ist. Unter der amüsanten Textoberfläche aber lässt sich auch in „Punk“ ein ernstes Thema finden, nämlich die Verteidigung einer renitenten Geisteshaltung, die Neues nur hervorbringen kann, wenn die Tradition der kulturellen Rebellion lebendig bleibt und sich nicht im weißen Rauschen auflöst.
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