SWR2 lesenswert Kritik

Margaret Atwood – Innigst / Dearly. Gedichte eines Lebens / Poems of a Lifetime

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Gedichte Margaret Atwoods aus zwölf Jahren. Da geht es teils recht plakativ um Feminismus und Klimawandel; in anderen Gedichten gelingt es Atwood, die Flüchtigkeit und Brüchigkeit des Lebens einzufangen. Der zweisprachige Band "Innigst/Dearly" mit den Übersetzungen von Jan Wagner lädt dazu ein, die durch ihre Romane weltberühmte Autorin auch als Lyrikerin zu entdecken.

„Der Report der Magd“ hat Margaret Atwood zu einer Ikone der feministischen Literatur gemacht. Auch in ihrem neuen Gedichtband „Innigst/Dearly gibt es ein paar Texte, die man als feministische Lyrik kategorisieren könnte, etwa der Zyklus „Lieder für die ermordeten Schwestern“. Es sind allerdings nicht die besten des Bandes, der Werke aus den Jahren 2008 bis 2019 versammelt. Ähnliches gilt für einige Gedichte, die das Drohpotential des Klimawandels zur Geltung bringen möchten. Auch sie wirken oft plakativ, laufen auf die erwartbaren Schlussfolgerungen hinaus.

Gelungen sind dagegen die Texte, die ihre Bilder und Metaphern aus eindringlicher Beobachtung gewinnen. Etwa ein Gedicht über Pilze im September. Oder eines über Vogelfedern, die von der Schönheit künden – und vom Absturz einer Existenz:

Kalligraphie zerstörter Flügel
Überreste eines Gottes, der schmolz,
als er dem Mond zu nahe kam.

Vormals ein Höhenflieger,
wie wir alle.
Jedes Leben ist Scheitern,

sobald die letzte Stunde schlägt.

Der Tod und die Demütigungen des Alterns sind existentielle Themen für eine Dichterin um die achtzig. „Dein Körper, vormals Komplize / wird jetzt zur Falle“, heißt es an einer Stelle. Ein berührendes Gedicht ist der dementen alten Hauskatze gewidmet, die orientierungslos durch die Wohnung streift und ratlos in diverse ungeeignete Lebensmittel beißt. Sie hat vergessen, was Katzen fressen. „Invisible Man“, „Der Unsichtbare“ heißt das Gedicht, das sich an Atwoods 2019 nach schwerer Demenzkrankheit verstorbenen Lebenspartner Graeme Gibson richtet, dem das Buch gewidmet ist. Nicht mehr da – und doch zu spüren. In dem Gedicht heißt es:

die Form einer Abwesenheit
die statt deiner am Tisch
mir gegenübersitzt
(…) eine leichte Eindickung der Luft.

Die Brüchigkeit und Flüchtigkeit des Lebens sind zentrale Motive des Bandes. Atwood sieht auch die Sprache selbst davon betroffen. Einige ihrer Gedichte beklagen, wie vertraute, ausdrucksstarke Worte verblassen, von der Sprachgemeinschaft ausgesondert werden, Worte wie „Unbill“, „Halunke“, „verharren“ oder das gefühlvolle „Innigst“ im Titelgedicht. Was aber wäre vergänglicher als einstige Liebesmühen? Wo solche Erinnerungen die Gedichte bestimmen, sind sie völlig frei von Nostalgie. Eher macht sich eine Poetik des Befremdens geltend. Das war ich?

Atwoods Gedichte kommen nicht aus dem lyrischen Sprachlabor; es sind Reflexionen des Lebens, oft wie nebenbei entstanden, notiert auf was immer gerade an Zetteln zur Hand war. Worauf sie zur Reifung in eine Schublade gelegt und später überarbeitet wurden. Ein lyrisches Ich verwendet sie selten. Vor allem in den alltagsnahen Gedichten dominiert das Du als Form des lyrischen Gesprächs mit sich selbst, in das man sich als Leser schnell einbezogen fühlt.

Die Übersetzungen des Lyrikers Jan Wagner sind immer präzise, bisweilen auch erfreulich mutig, etwa wenn er „throat rattle of gravel“ zu einem langen expressiven Hauptwort verbindet: „Schotterkehlgeröchel“.  Dennoch besitzen viele Formulierungen im Original ein Plus an Klang, Rhythmus oder Triftigkeit, das gerade die inhaltlich genaue Übersetzung nicht mittransponieren kann. „Die Uhr tickt und der Tag zieht sich zusammen“ – das klingt eben nicht so elastisch-poetisch wie „the clock ticks and the day shrivels“. Umso schöner, dass sich der Verlag für eine zweisprachige Ausgabe entschieden hat. Es macht Spaß und intensiviert die Lektüre, wenn man immer wieder vergleichend zwischen linker und rechter Seite, zwischen Original und Übersetzung wechseln kann.

Sammelband der kanadischen Starautorin Margaret Atwood – „Hier kommen wir nicht lebend raus“

Der Titel deutet an, was sich als Leitmotiv durch die Storys schlängelt: Wie lässt sich das Leben angesichts der eigenen Vergänglichkeit und des Verlusts von geliebten Menschen ertragen?

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SWR Bestenliste Januar 2023 | Platz 3 Margaret Atwood: Innigst / Dearly. Gedichte eines Lebens / Poems of a Lifetime

Gedichte aus den Jahren zwischen 2008 und 2019 in einer zweisprachigen Ausgabe. Atwood schreibt in einem melancholischen Tonfall, doch gleichzeitig baut ihre fein geschliffene Sprache auch Trostpunkte in einer versehrten Welt auf.

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Autor/in
Wolfgang Schneider