Buchkritik

Ljuba Arnautovic – Erste Töchter

Stand
Autor/in
Michael Kuhlmann

Die in Österreich und der damaligen Sowjetunion verwurzelte Ljuba Arnautovic vervollständigt mit ihrem neuen Band die Trilogie über ihre Familiengeschichte. Während der erste und zweite Band von der Großeltern- und Vätergeneration handelt, ist sie mit „Erste Töchter“ nun in ihrer eigenen Generation angekommen.

Die 1954 geborene Ljuba Arnautovic gehört zu den Spätstarterinnen der österreichischen Literatur. Arnautovic stammt aus dem damals sowjetischen Kursk, sie studierte in Wien Sozialpädagogik und arbeitete unter anderem für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. An dieser Biographie zwischen Sowjetunion und Österreich kann man schon ablesen: Ljuba Arnautovic entstammt einer Familie, die in beiden Ländern wurzelt – und die unter den Brüchen des 20. Jahrhunderts zu leiden hatte.

2018 debütierte Arnautovic mit ihrem Roman „Im Verborgenen“, dem ersten Teil einer Trilogie, die von dieser Familie erzählt, genauer: von der Großelterngeneration. Das Buch landete direkt auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis. 2021 dann erschien „Junischnee“, der zweite Band, nun über die Vätergeneration, abermals vielbeachtet und für seinen Erzählstil gelobt.

Dritter Band über eigene Generation

Jetzt ist Ljuba Arnautovic mit dem dritten Band in ihrer eigenen Generation angekommen: bei sich und ihrer etwas jüngeren Schwester. „Erste Töchter“ heißt der Roman.

Ein wenig spröde scheint der Sprachduktus – aber das ist nur eine kunstvolle Form wohlbemessener Distanz. Ljuba Arnautovic erzählt von sich und von ihrer Schwester. Im Roman heißen sie Luna und Lara, geboren 1954 und 57. Sie entstammen einer zerbrochenen Familie. Luna lebt in München beim österreichischen Vater, Lara bei der sowjetischen Mutter in Wien. Spätestens in der Pubertät sind sie einander fremd geworden. 

Die Schwestern möchten gerne glauben, es läge am Altersunterschied. Doch da ist noch etwas anderes. Beide spüren: Die Schwester lehnt es ab, wie ich lebe. Ich muss mich und meine Welt verteidigen, zugleich die ihre herabwürdigen. Sie spüren es, aber sie werden noch sehr lange keine Worte dafür finden.

Luna fühlt sich in München fremd beim Vater und seiner neuen Familie. Lara ist in Wien unglücklich. Die Mutter fristet dort ihr Leben als Haushälterin eines Ukrainers: Grischa hatte sich am deutschen Völkermord beteiligt und musste deshalb aus der Sowjetunion fliehen. 

Manchmal fängt er grundlos an zu toben. Es steckt so viel Gewalt und Wut und Geschrei in diesem Körper. An solchen Abenden nimmt Lara ihre Mutter und flüchtet mit ihr aus der Wohnung. Sie gehen langsam durch die Straßen der Stadt, bleiben immer wieder stehen und blicken in erleuchtete Fenster. Sie stellen sich vor, wie gemütlich es diese Menschen haben. Sie phantasieren, wie ein Leben ohne Grischa aussehen könnte.

Die Gräuel des 20. Jahrhunderts 

Die Szene illustriert, wie genau Ljuba Arnautovic die Gräuel des 20. Jahrhunderts in ihrem Roman eingefangen hat – man denkt bei Grischa sofort an die ukrainischen Hilfstruppen der SS, die 1944 den Warschauer Aufstand niederschlugen. Aber auch jene Zeitgeschichte, die Luna und Lara erleben, schlägt sich nieder: von den sechziger Jahren bis in die Neunziger. Darin eingebettet erzählt Ljuba Arnautovic ihre Familiengeschichte – wie schon zuvor in ihrer Trilogie geradezu sachlich. Mehr noch als im vorangegangenen „Junischnee“ nimmt die Erzählung Züge einer knappen Chronik an. 

Gekidnappt von der russischen Mafia 

Dialoge sind rar, und auch einzelne Szenen werden nur selten ausgemalt - etwa die Reise in einem Nachtzug von Wien in die Sowjetunion, Ende der achtziger Jahre. Hier zeigt die Autorin, wie lebendig sie solch eine Szenerie zu schildern versteht. Die Nachtzugreise leitet auch über zum Schlussteil des Romans. Lunas und Laras Vater Karl ist nach der Öffnung Osteuropas in der Halbwelt Moskaus aktiv. Prompt wird er von der russischen Mafia gekidnappt. Um ihn freizubekommen, müssen Luna und Lara an einem Strang ziehen – und treffen sich nach langer Zeit wieder. 

Luna spürt plötzlich ein sehr altes Gefühl aufsteigen. Jetzt entdeckt sie zum zweiten Mal dieses verwandte Wesen neben sich. Ihr Vater hatte die Schwestern damals auseinandergerissen, jetzt führt er sie – wenn auch auf eine verquere Art – wieder zusammen. Luna und Lara hatten damals begonnen, eine Distanz zwischen sich zu spannen, eine Schutzvorrichtung gegen den Schmerz der Trennung. Diese Distanz brauchen sie doch längst nicht mehr.

Auch hier belässt es Ljuba Arnautovic gekonnt bei Andeutungen. „Erste Töchter“ ist der gelungene Abschluss ihrer Familientrilogie. Für die Handlung selbst sind Nuancen noch wichtiger als etwa in „Junischnee“: Dort ging es etwa darum, wie der Vater in Moskau den Terror stalinistischer Verhöre durchlitt, wie er danach tagtäglich im Gulag zu überleben versuchte.

„Erste Töchter“ hingegen bildet ab, wie die Wirren eines Zeitalters eine Familie zerreißen. Und so führt Ljuba Arnautovic in ihrer Trilogie letztlich vor Augen, wie Nationalismus und politischer Extremismus des 20. Jahrhunderts ganze Generationen ins Unglück gestürzt haben. 

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