Kulturmomente des Jahres 2023

Der Roman „Jaffa Road” von Daniel Speck

Stand
Autor/in
Astrid Tauch
Astrid Tauch

Der Münchner Drehbuchautor Daniel Speck erzählt in seinem Roman „Jaffa Road“ eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts. Darin werden die verschiedenen Perspektiven von Juden, Christen und Muslimen nachvollziehbar beschrieben. Für SWR2 Kulturredakteurin Astrid Tauch ist das Buch ihr „Kulturmoment des Jahres“.

Es war ein Samstag, der 7. Oktober. Samstag bedeutet: das Leben läuft in gemächlicheren Bahnen ab, die Nachricht vom Raketenbeschuss auf Israel löst bei mir noch keine größeren Emotionen aus. Dazu kommt es einfach zu oft vor. Bis die ganze Tragweite des Terrorangriffs der Hamas auf israelische Gemeinden, auf ein Rave-Festival, auf Kibbuzim klar wird, vergehen Stunden.

Dann aber geht es Schlag auf Schlag. Israel verkündet den Kriegszustand, im Netz wird der Krieg der Bilder die Welt polarisieren: tote Kinder im Gaza gegen tote Geiseln in Israel. Propalästinensische Demonstrationen in London, Brüssel und Paris, in Deutschland werden sie verboten. Das ist der Moment, an dem ich Orientierung suche, eine Erklärung für das WARUM.

Warum dieser gegenseitige Hass?

Warum dieser gegenseitige Hass ,75 Jahre nach Gründung des Staates Israel? Ich suche nach Antworten und finde sie – in der Fiktion – in einem Roman von Daniel Speck, 2021 veröffentlicht: „Jaffa Road. Eine Familiensaga, 670 Seiten lang, die kurz vor der Staatsgründung Israels einsetzt, ein halbes Jahrhundert umspannt und die den Nahostkonflikt aus verschiedenen Perspektiven betrachtet.

Moritz, ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, gelangt in den Kriegswirren nach Tunis, wird dort von einer jüdischen Familie aufgenommen, geht mit der Tochter in das von den Zionisten als „gelobtes Land“ propagierte Israel. In Deutschland wartet die schwangere Verlobte vergeblich auf seine Rückkehr.

In Jaffa werden Araber von ihren Plantagen vertrieben

Das Ziel der Auswanderer: Jaffa, wo seit Generationen Araber ihre Orangenplantagen bewirtschaften. So wie Georges und seine Familie, die jetzt erleben muss, wie jüdische Immigranten aus Europa und Russland sie erst von ihren Feldern und dann aus ihrem Haus vertreiben. Sie werden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Daniel Speck beschreibt in nüchternem Ton das Unrecht, das jüdische Immigranten an der arabischen Bevölkerung begehen. Wie sie die Häuser der Geflohenen plündern, tausende Bauern erschießen.

Aber mit dem Protagonisten Moritz, der mit seiner jüdischen Familie in eben diesem Jaffa lebt, erfährt man auch von den vielen Holocaustüberlebenden, die sich nach Heimat und Geborgenheit sehnen und dieses Ziel auch auf Kosten der arabischen Nachbarn durchsetzen.

Speck verleiht dem Nahostkonflikt Namen und Gesichter

Der Autor wechselt mit jedem Kapitel die Perspektive, fasst die Zweifel und Selbstbefragungen seiner Protagonisten in eindringliche Dialoge. Und er verleiht Ereignissen aus dem Nahostkonflikt Namen und Gesichter. Der Angriff auf die Stadt Lydda 1948 und der anschließende Massenexodus der palästinensischen Einwohner oder die militärischen Konflikte im jungen Staat Israel: Sinaikrieg 1956, Sechs-Tage -Krieg 1967, die die israelische Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen.

Der Hass Familien bestimmt auch die nachfolgenden Generationen

Was ich aus diesem Roman ziehe, sind aber nicht nur historische Fakten , sondern es ist die Erkenntnis, dass der gegenseitige Hass Familien zerstört und das Leben der nachfolgenden Generationen bestimmt: so wird sich Amal, die Tochter des einst stolzen Plantagenbesitzers Georges als Studentin in Deutschland der PLFP, der Volksfront zur Befreiung Palästinas anschließen.

Das Dilemma der Deutschen

Palästinensische Terrororganisationen entführen zu der Zeit Flugzeuge, werfen Bomben, töten Unschuldige.1972 erlebt Amal in München das Olympiaattentat der PLO mit. Moritz macht ihr Vorwürfe. Und in dem Dialog zwischen dem Deutschen Moritz und der Palästinenserin Amal spiegelt sich das ganze Dilemma, in dem sich Deutschland bis heute befindet. Während Moritz auf unsere jüngste Geschichte verweist, die jeden Deutschen dazu verpflichtet, Juden zu schützen und vorbehaltlos zu unterstützen, fragt Amal zurück :Gibt dieses Unrecht, das wir Deutsche den Juden angetan haben, den Juden das Recht, ihnen, den Palästinensern Unrecht anzutun ?

Es sind Dialoge wie diese, die mir klarmachen : es gibt nicht DIE eine Wahrheit. Wahrheit entsteht vielleicht durch gegenseitiges Zuhören und das Respektieren der unterschiedlichen Perspektiven auf den Nahostkonflikt.

Kulturmomente des Jahres 2023

In einem Jahr voller Krieg, Katastrophe und Krise gab es vermutlich trotz allem immer wieder Momente, in denen ein Buch, eine Ausstellung, ein Kinobesuch, ein Text, ein Musikalbum, ein besonderer Kulturort oder ein Theatererlebnis Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnisse stifteten, die über das hinausgewiesen haben, was wir gerade an Anspannung, Belastung und Gegenwartsgefangenheit erleben.

Diese Momente und ihre Auslöser interessieren uns und von ihnen sollen uns unsere Autorinnen und Autoren erzählen. Welcher Moment war es? Wovon wurden sie ausgelöst? Was zeichnete die Erfahrung aus? Welche Erkenntnis steckte in diesem Moment? Warum konnte es dieser Kulturmoment schaffen, so zu wirken?

Ab dem 18.Dezember erzählen Autorinnen und Autoren von SWR2 Kultur Aktuell von ihren Kulturmomenten des Jahres 2023.

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