Buchtipp zur Frankfurter Buchmesse 2024: Gastland Italien

Zeitloses Meisterwerk der italienischen Literatur – Maria Messinas Roman „Das Haus in der Gasse“

Stand
Autor/in
Carsten Otte
SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte
Onlinefassung
Katrin Ackermann

Ein Familiendrama im provinziellen Sizilien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die junge Antonietta heiratet nach dem Tod ihres Vaters den Pachteintreiber Don Lucio, ein wortkarger und berechnender Tyrann, für den das Glück in der Gewohnheit liegt.

Italien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2024. Schon im Vorfeld des Auftritts gab es Streit um die Frage, wie und mit welchen Autorinnen und Autoren sich das Land präsentieren werde. Jenseits der politischen Debatte lassen sich allerdings zahlreiche Werke entdecken, die zum italienischen Gastland-Auftritt erschienen sind.

Es beeindrucken nicht zuletzt historische Werke, die in Vergessenheit geraten und nun erneut verlegt worden sind. Zu nennen wäre beispielsweise der Roman „Das Haus in der Gasse“ der 1887 in Palermo geborenen Schriftstellerin Maria Messina.

Ein Geflecht von Abhängigkeiten

Sizilien im ausgehenden 19. Jahrhundert: Die junge Antonietta heiratet nach dem Tod ihres Vaters den nicht gerade attraktiven, aber vermögenden Verwalter und Pachteintreiber Don Lucio Carmine. Das Paar zieht in ein unscheinbares Haus in der verschatteten Gasse eines Provinzstädtchen. Don Lucio ist ein wortkarger und berechnender Tyrann, für den das Glück in der Gewohnheit liegt. So starrsinnig und geizig er auch ist, lässt er sich dennoch auf ein für die damalige Zeit eher ungewöhnliches Arrangement ein.

Nicolina, Antoniettas jüngere Schwester, soll der frisch Verheirateten den Umzug in die fremde Stadt erleichtern. Nicolina bleibt auch nach der Geburt des ersten Kindes bei dem Ehepaar und übernimmt die Rolle einer Dienstmagd. In ihrer Bewunderung für Don Lucio und in der Eifersucht auf das scheinbare Glück der Schwester wird sie schon bald zur unglücklichen Geliebten des Schwagers.

Hass und eine Traurigkeit liegen fortan wie ein Schatten über diesem Geflecht von Abhängigkeiten, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Alessio, der Sohn von Antonietta und Don Lucio, wird das Unglück von Mutter und Tante schon bald durchschauen und versuchen, einen eigenen Weg zu gehen – was ihm allerdings misslingt.

Melancholisches Kammerspiel, zeitloses Meisterwerk

Maria Messina hat mit „Das Haus in der Gasse“ einen sprachlich so makellosen Roman geschrieben, dass man mit jeder Zeile das Gefühl hat, Weltliteratur zu lesen. Messina schafft es nämlich, ihr melancholisches Kammerspiel aus den Charakteren heraus zu erzählen – und dabei selbst den Haustyrannen Don Lucio halbwegs mehrdimensional zu zeigen.

Das gelingt Messina über eine kunstvoll eingesetzte erlebte Rede und inneren Monologen, in denen das charakterliche, aber auch milieubedingte Korsett der Figuren sichtbar wird. Im Mittelpunkt der Geschichte aber stehen rätselhafte Entscheidungen, die noch nicht einmal mit patriarchalen Strukturen zu erklären sind. Wer nur einen einzigen Titel des Gastlandes Italien kaufen möchte, sollte sich für dieses zeitlose Meisterwerk entscheiden.

Die Kunst des Weglassens

Messina ist eine Künstlerin des Weglassens. Vor allem in einer Vergewaltigungsszene zeigt sich ihre literarische Könnerschaft. Mit wenigen Worten beschreibt sie den Übergriff. Der furchtbare Rest entsteht im Kopf der Lesenden. So bestürzend wie bezeichnend für die Verhältnisse in der sizilianischen Provinz ist, dass weder Antonietta noch Nicolina mit Don Lucio brechen. Nach Alessios Tod geht der Alltag einfach weiter, der von Beginn an mit großer Melancholie gezeichnet wird:

Sie saßen beide mit einer Arbeit auf dem Balkon, der zu Gasse hinausging, und schwatzten wie zwei gute Freundinnen. Sie sprachen wenig über die Gegenwart – und wenn, vermieden sie es, Don Lucio zu erwähnen – und viel über die Vergangenheit.

Anfangs waren die Geschwister tatsächlich dankbar, von Don Lucio unterstützt zu werden. Vor allem Nicolina hätte nach dem Tod des Vaters und ohne Ehemann auf der Straße gestanden. Der Hausherr wird als Wohltäter wahrgenommen, und so wollen sie ihn belohnen. Nicolina besteht darauf, die Bediensteten zu entlassen, damit sie die Hausarbeiten übernehmen kann.

Der sexuelle Übergriff Don Lucios aber lässt sie im wahrsten Sinne des Wortes erstarren. Die Unverfrorenheit des selbstherrlichen Mannes führt Nicolina in eine seltsame Apathie. Antonietta wiederum kann ihrer Schwester nicht verzeihen, sich nicht gegen die Avancen ihres Gatten gewehrt zu haben. Am Ende werden im Haus in der Gasse alle furchtbar einsam sein.

  

Kleine Szenen, die den Roman groß machen

Das Gegenmodell zu den duldsamen Schwestern, aber auch zum geizigen und gefühlskalten Vater ist Alessio, der sensible, kränkliche und an Kunst interessierte Junge:

Er war noch ein Kind gewesen, als er begriff, dass ‚etwas‘ sehr Schlimmes und sehr Hässliches dieses Haus, das so voller Frieden zu sein schien, überschattete.

An einer anderen Stelle heißt es:

Das unterschwellige Misstrauen, das sein Sohn ihm einflößte, konnte er jedoch nicht überwinden, war Alessio doch der Einzige, der sich seiner strengen Überwachung entzog.

So leiht sich der freiheitsliebende Bub ein Rad aus, fährt ans Meer, um dem düsteren Haus in der Gasse zumindest für ein paar Stunden zu entkommen. Doch leider baut Alessio einen Unfall und eine alte Schweißnaht löst sich. Das Rad ist beschädigt, und der Besitzer verlangt 50 Lire. Der Vater will die Schulden nicht bezahlen, und der Junge verzweifelt. Es sind kleine Szenen, die diesen Roman groß machen.

Ein lesenswertes Nachwort

Dieser Romanklassiker aus Italien wird im richtigen Augenblick von der Friedenauer Presse noch einmal verlegt, um auch über die wellenartige Rezeption der Autorin noch einmal nachzudenken. Mal abgesehen von den präzisen Naturbeschreibungen, den eindringlichen Schilderungen vom Sternenhimmel als Seelenspiegel, verweist die Germanistin, Übersetzerin und Literaturkritikerin Christiane Pöhlmann in einem lesenswerten Nachtwort auf den politischen Gehalt der Werke Messinas, der in den vergangenen Dekaden unterschiedlich bewertet wurde.

Zu Lebzeiten konnte sich die Schriftstellerin über gute Kritiken freuen; ihre Bücher wurden übersetzt und auch international besprochen. Doch nach ihrem Tod 1944 geriet Messina in Vergessenheit. Als sie in den 1980er-Jahren wiederentdeckt wurde, konnte sie den Ansprüchen des feministischen Publikums offensichtlich nicht gerecht werden. Denn Messinas Figuren sind nicht kämpferisch.

Das „Haus in der Gasse“ wird auch nicht grundsätzlich als Ort der Unterdrückung verdammt, sondern anfangs als, wie Pöhlmann schreibt, „Garant für ein sicheres, behütetes Dasein“ beschrieben. Im Nachwort heißt es sehr richtig (und nicht nur auf Messina bezogen): „Immer hemmen Erwartungen, die an Literatur herangetragen werden, den eigentlichen Genuss.“ Messinas Prosa ist sozialkritisch nicht über ein politisches Programm, sondern durch ihre genaue Erzählung innerfamiliärer Machtstrukturen.

Maria Messina ist mit Dickens und Zola verglichen worden, man nannte sie eine Schülerin Giovanni Vergas, dem Hauptvertreter des Verismus. Doch auch vom italienischen Naturalismus hat sich Messina entfernt; ihr Werk spielt in einer eigenen literarischen Liga und kann nun, fernab literaturhistorischer Vergleiche oder ideologischer Lesebrillen, auch in Deutschland wiederentdeckt werden.

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