Emily St. John Mandel wurde im Corona-Jahr 2020 berühmt. Denn plötzlich galt sie als die Autorin, die „es“ hatte kommen sehen. Sechs Jahre zuvor hatte die kanadische Autorin in ihrem Roman „Station Eleven“ davon erzählt, wie nach einer verheerenden Grippepandemie die wenigen Überlebenden Shakespeare aufführen unter dem Wahlspruch: „Überleben allein ist unzureichend“.
Es lohnt, zum Erscheinen von Mandels neuem Roman noch einmal an diese berückend schöne, inzwischen vom US-Fernsehsender HBO adaptierte Dystopie zu erinnern. Denn in einem herrlich selbstironischen Kapitel ihres neuen Romans „Das Meer der endlosen Ruhe“ stellt Mandel eine fiktive Autorin ins Zentrum, die, Achtung, kurz vor Ausbruch einer Pandemie einen Pandemieroman veröffentlicht hat.
Der SARS-12-Epidemie gerade noch entkommen
Dieses Kapitel spielt im Jahr 2203, und diese besagte Olive Llewellyn ist unterwegs auf der, wie es heißt, „letzten Lesereise auf der Erde“, fern von Ehemann und Tochter, die zuhause auf dem Mond leben.
Warum sind postapokalyptische Romane so beliebt, wird die Autorin auf ihrer Tour im 23. Jahrhundert gefragt. Mandels fiktive Stellvertreterin antwortet mit einer Gegenfrage: Wann hätten wir je nicht daran geglaubt, dass es mit der Welt zu Ende geht? Und könnte es daher sein, dass die Vorstellung, man selbst gehöre zu den letzten Menschen, nicht eigentlich narzisstisch ist?
Zur Ironie dieses Kapitels gehört, dass Olive Llewellyn auf dieser Lesereise an der eben auf der Erde ausbrechenden SARS-12-Epidemie hätte sterben sollen – würde sie nicht von einem Zeitreisenden in letzter Minute gewarnt werden.
Unsere Realität ist bloß eine Simulation
Denn „Das Meer der endlosen Ruhe“ ist ein raffiniert verschachtelter Zeitreiseroman, in dem Mandel einmal mehr ihrer Faszination für Koinzidenzen und alternative Realitäten nachgeht. Dabei kontrastiert ihr gelassen-melancholischer Erzählstil eindrucksvoll mit all den Katastrophen, Zeitsprüngen und Plot-Twists, die der Roman bereithält.
„Das Meer der endlosen Ruhe“ hat viele Hauptfiguren und einen Ich-Erzähler. Der heißt Gaspery-Jacques, stammt aus dem frühen 25. Jahrhundert und hat den Auftrag, das Geheimnis einer Anomalie zu lüften, die die Forscher eines mysteriösen „Zeitinstituts“ beunruhigt. Ist diese Störung der Zeitlinie der Beweis dafür, dass unsere Realität nur eine Simulation ist?
Bei der Anomalie handelt es sich um die verstörende Erfahrung, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, mit trauriger Geigenmusik im Hintergrund und einem mysteriösen „Wuusch“, als würde etwas Großes in die Luft steigen. Dieses Erlebnis teilen die in verschiedenen Jahrhunderten lebenden Figuren des Romans: Wie Edwin, der verstoßene englische Aristokratensohn, dem dieses Erlebnis 1912 in den kanadischen Wäldern widerfährt.
Vincent – die weibliche Hauptfigur aus Mandels Roman „Das Glashotel“ –, die dasselbe Erlebnis als Jugendliche bei einem Spaziergang mit ihrer Videokamera filmt und die hier nochmal auftritt. Und natürlich die Schriftstellerin Olive Llewellyn aus der Zukunft bei einem Besuch eines Weltraumbahnhofs.
Dass Olive nach ihrer Rückkehr mit ihrer Familie monatelang im lunaren Lockdown verbringen muss, ist wohl ein augenzwinkernder Hinweis darauf, wie wenig Vertrauen die reale Autorin Mandel in den wissenschaftlichen Fortschritt hat.
Letztlich doch mehr Roman als tech-affine SciFi
Auch für die technischen Aspekte ihrer Geschichte interessiert sich die Kanadierin kaum. Damit steht Mandels Zukunftsroman den Werken von Margret Atwood oder Kazuo Ishiguro ungleich näher als genreüblichen SciFi-Abenteuern. Und ventiliert Themen wie Sterblichkeit, die Natur unserer Realität oder die Suche nach Schönheit und Bedeutung in einer Welt, die fortwährend am Untergehen ist.
Andere Themen wie die Folgen von Zeitreise-Paradoxien oder der Kampf um die Integrität der Zeitlinie kommen einem dagegen allzu bekannt vor, etwa aus diversen StarTrek-Folgen. Vermutlich liegt es daran, dass „Das Meer der endlosen Ruhe“ zwar einen packenden und anregenden Lektürestoff bietet – aber mit Mandels brillanten Vorgängerwerken am Ende doch nicht ganz mithalten kann.