Über Reims ist noch nicht alles gesagt: Didier Eribon kehrt erneut zurück in seine prekäre Herkunftswelt, um sich um seine hinfällige Mutter zu kümmern. Er kann nur wenig Hilfe bieten, ihr dafür aber postum ein eindringliches Porträt widmen: Leben, Alter und Sterben einer Arbeiterin aus der französischen Provinz.
Didier Eribons autobiographisches Buch „Rückkehr nach Reims“ gilt inzwischen als Manifest eines neuen klassenbewussten Schreibens. Die „soziale Scham“ analysiert Eribon darin als Schlüsselkategorie seines Denkens und Fühlens. Allerdings ist die echte proletarische Herkunft in den linken Pariser Intellektuellenkreisen auch ein Gütesiegel, sofern man den Klassenwechsel nur so glänzend schafft wie Eribon.
Didier Eribon kehrt nochmal nach Reims zurück
In seinem neuen Buch muss er seine Scham überwinden und erneut nach Reims zurückkehren. Der Mutter, mittlerweile in den Achtzigern, geht es schlecht. Als er vor verschlossener Tür steht, wählt er den Notruf.
Der Umzug in ein Pflegeheim lässt sich nicht vermeiden, für die Mutter wie auch für den Sohn eine beklemmende, erschütternde Erfahrung. Eribon kritisiert das unmoralische Pflegesystem, das zur Überlastung des Personals und zur Vernachlässigung der Heimbewohner führe. Und sieht die Schuld bei den üblichen kapitalistischen Verdächtigen: „Kostensenkung“, „Profitmaximierung“ und „Neoliberalismus“.
Stark sind seine Analysen der Gespräche zwischen pflegebedürftigen Alten und ihren Angehörigen. Beide Seiten wissen, dass es unweigerlich bergab geht, aber das wird überspielt mit einem Repertoire an aufmunternden, beschönigenden, zur sogenannten Vernunft mahnenden Floskeln. Alle tun so, als würden sie die Wahrheit nicht kennen. Eribon verurteilt das nicht, denn es ist eine ausweglose Situation, ohne die wechselseitige Täuschung kaum zu bewältigen.
Ekel vor der eigenen Mutter
Zur Ehrlichkeit seines Berichtes gehört es auch, dass er sich nicht zum fürsorglichen Sohn stilisiert, sondern seine Hilflosigkeit im Angesicht der Hinfälligkeit bekennt, etwa wenn er das Zimmer der Mutter fluchtartig verlassen muss, weil ihm die Gerüche ihres künstlichen Darmausgangs Brechreiz verursachen. Im Pflegeheim hat er sie nur zweimal besucht; sieben Wochen nach dem Einzug ist sie gestorben.
Gerade die gemischten Gefühle und Ambivalenzen sind es jedoch, die das Porträt seiner Mutter hintergründig und faszinierend machen. Eribon beschreibt sie als Opfer der Klassenverhältnisse, aber er setzt seiner Darstellung auch ein kleines emanzipatorisches Glanzlicht auf. Mit achtzig Jahren habe sich die Mutter noch einmal „unsterblich verliebt“, was in der Familie auf wenig Wohlwollen stieß:
Eribon aber, der Praktiker und Theoretiker stigmatisierter Sexualität, entgegnet, die Mutter sei jetzt achtzig. Ob sie denn warten solle, bis sie neunzig sei?
Auch wenn ihr Geliebter von Hitler schwärmt – Eribon gönnt der Mutter das späte Glück nach der Ehe mit seinem Vater, der mit wütender Eifersucht über sie wachte. Trennung war in jenen Zeiten und Verhältnissen noch keine wirkliche Option.
Wechsel von der kommunistischen Partei zum Front Nationale
In der zweiten, retrospektiven Hälfte des Buches vergegenwärtigt Eribon als Sohn und Soziologe Schlüsselszenen seiner Jugend, durch die das Bild der Mutter und seine eigene Außenseiterposition in der Familie noch deutlicher werden. Er analysiert die Fernsehgewohnheiten und Lektüren der Mutter, ihr politisches Wahlverhalten sowie den allgemeinen Wechsel ihrer „Klasse“ von der kommunistischen Partei zum Front Nationale. Die Gründe dafür sieht er in der Deindustrialisierung und Prekarisierung.
Immer wieder beklagt er die unverbesserliche Neigung der Mutter zu rassistischen Bemerkungen, die er – um den Konflikt nicht zu schüren – meist schweigend erduldete, ebenso wie die homophoben Provokationen seiner Brüder, denen der „Klassenwechsel“ nicht gelungen ist und für die er die Pariser „Elite“, das „System“ und die „Linke“ repräsentiert.
Gegen die linke Verklärung der Arbeiterklasse
Das ist sie wieder, die „soziale Scham“ – Eribons zentrales Thema. Immerhin habe ihn seine Herkunft bewahrt vor der üblichen linken Verklärung der Arbeiterklasse, auf die Gefahr, dass er sich nun als „prolophob“ bezeichnen lassen müsse.
Eribon flankiert und vertieft seine Reflexionen über Alter, Pflege und Sterben mit vielen Zitaten aus den Werken bedeutender Autoren – Anreicherungen und Anregungen, von denen man auch als Leser dieses facettenreichen Mutterporträts profitiert, das durch die Doppelperspektive aus emotionaler autobiographischer Erzählung und kühler soziologischer Analyse überzeugt.
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