Beitrag mit Lesung

Sofi Oksanen – Putins Krieg gegen die Frauen

Stand
Autor/in
Lukas Meyer-Blankenburg

Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen beschreibt in ihrem Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“ das Ausmaß systematischer sexueller Gewalt im Krieg gegen die Ukraine. Erklärungen dafür findet sie in der russischen Geschichte. Ein eindrückliches und besonders wichtiges Buch.

Besonders die direkten Nachbarstaaten Russlands, also etwa die baltischen Länder, schauen etwas befremdet auf unsere deutschen Debatten über Für und Wider verschiedener Waffensysteme. In Estland, Litauen oder Finnland warnen Politikerinnen, aber auch Autorinnen eindringlich vor der Bedrohung, die von Russland ausgeht.

Eine dieser Stimmen gehört der finnisch-estnischen Autorin Sofi Oksanen. Eine international sehr berühmte Autorin. Sie hat einen Essay geschrieben mit dem Titel „Putins Krieg gegen die Frauen“ – und beschreibt darin das Ausmaß sexueller Gewalt, das zu diesem Krieg gehört. In der ARD-Sendung „titel thesen temperamente" sagt sie vor kurzem:

Sexuelle Gewalt ist wahrscheinlich eine der ältesten oder die älteste Kriegswaffe überhaupt. Aber Russland setzt sie auf besondere Art und Weise ein – nämlich als taktische Waffe. In der Ukraine werden Vergewaltigungen sexuelle Gewalt und Missbrauch benutzt, um den Widerstand der Ukrainer zu brechen, und auch als ein Instrument des Völkermords.

Sofi Oksanen: Russland setzt systematisch sexuelle Gewalt ein

Das klingt wirklich dramatisch, wird aber absolut nachvollziehbar, wenn man liest, was Sofi Oksanen in ihrem Buch zusammenträgt. – Hier Auszug aus ihrem Essay „Putins Krieg gegen die Frauen“:

Die ersten Schlagzeilen über die Kriegsverbrechen Russlands im Frühjahr 2022 schockierten die Welt. Viele fragten, was für Menschen die Russen eigentlich seien. Auf Twitter fragte einer meiner Follower: „Ich verstehe nicht, warum Russland in der Ukraine Entbindungskliniken bombardiert und Zivilisten vergewaltigt. Warum tun sie das? Versteht das jemand?“ Die einfache Antwort auf diese Frage ist, dass Russlands Armee keine ausreichende professionelle Kampffähigkeit besitzt. Unbewegliche Ziele lassen sich leicht treffen, und eine Vergewaltigung fordert von einem Berufssoldaten weder Kampffähigkeit noch Kampfausrüstung. Der sexuellen Gewalt haben die Soldaten sich in den Privatwohnungen der Opfer, auf öffentlichen Plätzen und in Kellern, in illegalen Verhaftungszentren und Filtrationslagern schuldig gemacht. Die Opfer waren sowohl Zivilisten als auch Kriegsgefangene. Die schwache Kampfkraft der russischen Armee erklärt jedoch nicht, dass ein Soldat solche Verbrechen begeht. Die Hintergrundfaktoren dafür sind erheblich komplizierter. Völkermorde entstehen nicht aus dem Nichts, im Krieg werden Zivilistinnen und Zivilisten nicht aus Versehen systematisch vergewaltigt. Russland hat eine lange, Kriegsverbrechen ermöglichende Geschichte. Das, was aus westlicher Sicht unlogisch, irrational und dumm wirkt, wie etwas, das man weder mit dem Verstand noch mit dem Herzen nachvollziehen kann, ist aus Moskauer Sicht rationales Vorgehen und hat eine Kontinuität in der Art und Weise, wie Russland Herrschaft ausübt.

Sexuelle Gewalt hat eine lange Tradition in Russland

Sexuelle Gewalt gehört zu den ältesten Waffen der Welt, denn sie ist billig, effizient, in ihrer Wirkung geschlechtsübergreifend, und sie erfordert weder Logistik, noch Technik, noch Modernisierung. Dennoch ist die Kultur der Straflosigkeit nicht Bestandteil einer jeden Armee, obwohl solche Kommentare zu hören waren, nachdem die Kriegsverbrechen, die Russland in der Ukraine begangen hat, allmählich ans Tageslicht kamen. Der Historiker Antony Beevor hat die Vergewaltigungen, die die Rote Armee in Deutschland begangen hat, als die größte Massenvergewaltigung unserer Geschichte bezeichnet. Später hat die Russische Föderation dieselbe Waffe auch in Tschetschenien, in Syrien, seit 2014 in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine sowie von der unter der Leitung des militärischen Nachrichtendienstes Russlands agierenden Wagner-Gruppe in zahlreichen afrikanischen Ländern eingesetzt.

Im Jahr 2022 griffen die Wagner-Söldner in der Zentralafrikanischen Republik eine Entbindungsklinik an und vergewaltigten die Mütter, die gerade entbunden hatten. Als eine Krankenschwester versuchte, die Männer daran zu hindern, wurde auch sie vergewaltigt.

Straflosigkeit der Armee eines der zentralen Probleme

Die Straflosigkeit der russischen Armee ist ein Erbe des sogenannten „Großen Vaterländischen Krieges“, und deshalb ist es wichtig, die damit verbundene Mythologie zu analysieren. Die Art und Weise, wie über den Krieg berichtet und wie er genannt wird, ist Teil des Mythos, und in Russland ist der Blickwinkel auf die Ereignisse der 1940er-Jahre ein anderer als der im Westen. Diesen Krieg als Zweiten Weltkrieg zu bezeichnen, betont, dass wir alle gelitten haben. Die Art und Weise, wie Russland dieselben Ereignisse benennt, betont, dass Russland der Mittelpunkt des Großkriegs war. Dann stehen nämlich die eigenen Verluste Russlands im Mittelpunkt, so dass ein Abweichen von der offiziellen Kriegspropaganda ein unpatriotischer Akt ist. Das Nachdenken über Leiden und Verluste der anderen ist ein unpatriotischer Akt. Die Empathie gegenüber anderen Kriegsopfern ist ein falsches Gefühl – Landesverrat.

Es klingt in diesem Auszug schon an: Es sind nicht nur die Grausamkeiten, von denen Sofi Oksanen berichtet, sondern was ihren Text so interessant macht ist, dass man sehr viel erfährt über das System hinter diesen Verbrechen.

Und die Autorin geht weit in die Geschichte Russlands und seiner Anrainerstaaten, um die heutige Gewalt, das imperialistische Gebaren und den Krieg zu erklären. Schon jetzt eines der wichtigsten Bücher zum Krieg in der Ukraine in diesem Jahr.

Mehr zum Thema

Literatur Ukrainische Autoren und der Krieg – Schreiben im Ausnahmezustand

Das Internet ist im Krieg zum Medium für aktuelle Literatur geworden. Über Social Media dichten geflüchtete Autorinnen zusammen mit Kollegen in der Ukraine.

SWR2 Wissen SWR2

Estland

Osteuropa Jugend trainiert für den Krieg – Estlands Armee-Nachwuchs

Die Furcht, von Russland angegriffen zu werden, ist in Estland so groß wie in keinem westeuropäischen Land. Schon Jugendliche engagieren sich deshalb in Estlands Freiwilligenarmee.

SWR2 Wissen SWR2

Stand
Autor/in
Lukas Meyer-Blankenburg