In ihrem neuen Roman erkundet Anne Weber das vermeintlich Vertraute und begibt sich in die Außenbezirke von Paris, dorthin, wo Menschen mit Migrationshintergrund leben und Armut den Alltag bestimmt. In diesen halbfiktionalen Streifzügen aber lauern die Geschichten.
Anne Weber ist eine Erzählerin, die sich ungern wiederholt. Mit jedem neuen Roman, so scheint es, findet sie eine neue Form. In ihrem Buch „Tal der Herrlichkeiten“ gelingt es ihr das Jenseits erzählbar zu machen, in „Ahnen“ unternimmt sie eine Zeitreise in die eigene Familiengeschichte, mit „Kirio“ führt sie die Tradition der Heiligenlegende bis in die Gegenwart und mit „Annette, ein Heldinnenepos“ rhythmisiert sie die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir.
Anne Weber kommt fremden Menschen literarisch nahe
Immer wieder sind es mehr oder minder fremde Menschen, denen sie literarisch nahekommt. In ihrem neuen Roman „Bannmeilen“ jetzt ist es der fremde Teil einer ihr aufs Engste vertrauten Stadt.
Anne Weber ging mit 19 Jahren nach Paris und lebt heute noch dort. Mit Blick auf den Sacre Coeur kam es ihr nie in den Sinn, diese Grenze des Périphérique zu überschreiten und sich in den Banlieues umzusehen, die mutmaßlich nichts zu bieten haben als Schnellstraßen und Autobahnen, massive Wohnblocks neben Lagerhallen und gewaltigen Supermärkten, vor allem aber Menschen, die ihr und fast jedem anderen Pariser fremd vorkommen.
Streifzüge durch die Banlieues von Paris
Die gespielte Lässigkeit geht mit fortschreitenden Streifzügen durch diese Vororte in eine echte über. Gemeinsam mit ihrem Freund Thierry, der für einen Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele nach Drehorten sucht, und algerischer Herkunft ist, macht die Ich-Erzählerin Begegnungen, die nicht nur ihre persönliche Sichtweise verändern. In einem kleinen Café, in dem ganz selbstverständlich auch Frauen verkehren, finden die beiden einen Ort der Ruhe und der Erkenntnis.
Hier sitzt ein stummer Dominospieler neben einem Mann, der sich den Rotwein direkt in den Magen spritzt, der alten Mutter des Besitzers und einem Algerier, der kaum etwas weiß von der Heimat seiner Eltern.
Ein literarischer Blick hinter die Vorurteile von Armut und Langeweile
Indem Anne Weber die Wirklichkeit fiktionalisiert, kann sie sie zur Kenntlichkeit verändern. Wieweit hinter Thierry der Fotograf Bruno Boudjelal steht, wie weit Anne Weber selbst all die kleinen Dinge aufgeklaubt und gesammelt hat, wird dabei unwichtig. Hier geht es darum, eine Welt zu entdecken, die alle schon zu kennen glauben. Denn hinter dem Vorurteil von Armut und Langeweile lagern unendlich viele Geschichten, verwurzelt in der Historie Frankreichs, die auch nach diesem Buch noch lange nicht entdeckt sind.
Mehr zu Anne Weber
Zeitgenossen Anne Weber: „Eine Sprache kann nicht beherrscht werden.“
Deutsch und Französisch sind die beiden Sprachen, in denen Anne Weber zu Hause ist. Geboren 1964 in Offenbach, lebt sie seit Jahrzehnten in Paris. Ihre ersten Romane schrieb sie auf Französisch und übersetzte sie danach ins Deutsche. Für ihren Roman „Annette, eine Heldinnenepos“ bekam Anne Weber den Deutschen Buchpreis 2020.
Buchkritik Thomas Stangl, Anne Weber – Über gute und böse Literatur
Darf man als Romanautor ein reales Vorbild für seine Helden haben und dessen Leben trotzdem frei gestalten? Anne Weber, bekannte deutsch-französische Autorin hat darüber mit dem österreichischen Schriftsteller Thomas Stangl einen intensiven Briefwechsel geführt. Dabei geht es um eine durchaus wichtige Frage: Gibt es eine Ethik beim literarischen Schreiben? Thomas Combrink hat den Briefwechsel gelesen.
Matthes & Seitz Verlag, 185 Seiten, 22,00 Euro
ISBN 978-3-7518-0074-7