Von der Unausweichlichkeit der Liebe und ihren Abgründen erzählt Deniz Ohde in ihrem neuen Roman. „Ich stelle mich schlafend“ handelt von einer Anziehungskraft, die etwas Zerstörerisches hat – und am Ende vielleicht auch etwas Erlösendes.
Wie unglaublich, wie nah und zugleich absurd weit entfernt sind im Rückblick diese jugendlichen Schwärmereien: Man ist 13 oder 14, sieht plötzlich eine Person auf dem Schulhof oder aus dem Nachbarhaus treten, weiß nichts von ihr. Aber die Bewegungen, das ins Gesicht fallende Haar, die noch kaum etwas von sich ahnende Coolness dieses erstmals erblickten Wunderwesens setzen eine Fantasiemaschine in Gang, die aus romantischem Erbgut und arglosen Teenie-Filmen gespeist wird.
Jugendliche Suche nach dem eigenen Ich
Yasemin, die Sehnsüchtige, Imma, die enge Freundin, Vito, der Angebetete: Daraus könnte nun ein Jugendroman mit herzschmerzreichen Verwicklungen werden. Da es sich aber um das neue Buch der für ihr Debüt „Streulicht“ gefeierten Autorin Deniz Ohde handelt, gehen einfache Schlager-Reime hier nicht auf: „Ich stelle mich schlafend“ handelt zwar von juvenilem Gefühlschaos, mehr aber noch davon, wie man zu sich selbst und in den eigenen Körper findet, um mühselig wieder aus der eigenen Haut zu schlüpfen, über den eigenen Schatten zu springen. Yasemin nämlich ist ein ambivalenter, unsicherer Mensch. Wo immer sie ist – sie fühlt sich nicht willkommen. Aus einem Willensbruch sei sie gezeugt worden, heißt es mehrmals. Soll heißen: Die Mutter war in der Nacht der Zeugung bis zur Willenlosigkeit betrunken, der Vater scherte sich nicht darum. Danach musste geheiratet werden, obwohl die Eltern nicht recht zusammenpassten. Diese missliche Ausgangskonstellation hat Einfluss auf Denken und Selbstwahrnehmung.
Der Ton Ohdes, das merkt man an diesem Zitat, ist nicht ganz frei von Manierismen. Die Leidenschaft für Vito, das Schwindelgefühl der Pubertät – all das geht ohne Pathos nicht ab. Alles in diesem Text ist getragen von großer Ernsthaftigkeit. Wer kein richtiges Zuhause besitzt und innerlich zaudert, hat mit Selbstironie nichts am Hut. Beim Lesen denkt man dennoch manchmal: too much, ein paar weniger aufgeladene Worte, ein paar weniger Bilder hätten dem Buch nicht geschadet.
Ein Reitunfall sorgt für die Wende im Leben
Aber doch wird man von dieser jungen, sich in Gedanken verheddernden Heldin gefangen genommen, vielleicht auch, weil man sie nicht immer ganz versteht oder sie beim Sich-verstehen-wollen auf keinen Fall alleine lassen will. Jedenfalls spielt Yasemin das Schicksal einen Streich: Sie stürzt beim Reiten vom Pferd, zieht sich erhebliche Verletzungen zu, erholt sich langsam in einer Rehaklinik und kommt sich zum ersten Mal selbst näher.
Mit der Entdeckung des eigenen Körpers geht allerdings die verwirrende Erkenntnis einher, dass andere diesen Körper auch entdecken – als Sexualobjekt. Für die 14-Jährige ist das zu viel. Wo eben noch die unschuldige Hingabe an Vito war, wendet sie sich nach ihrer Rückkehr aus der Klinik von ihm ab. Er ist drei Jahre älter, sie ist zu jung. Vito leidet; Yasemin scheint ihn aus Selbstschutz zu vergessen. Zeit vergeht. Ausbildung, ein solider kaufmännischer Beruf, einige Liebschaften folgen, dann eine zukunftsfähige Beziehung, von den Eltern ist keine Rede mehr – das alles wird ausführlich und als geradezu folgerichtiger Lebensweg erzählt. Aber es wird auch so genau erzählt, um das Ungeheuerliche, den Bruch, die Umkehr nur umso überraschender erscheinen zu lassen: Denn Yasemin trifft Vito wieder. Sie ist nun Anfang 30; er, der Ältere, erscheint heruntergekommen, haltlos, lebensuntüchtig – und doch ist da dieser Glanz, den sie vor fast 20 Jahren in ihm erblickt hat.
Fatale Rückkehr zum Ex
Yasemin verlässt ihren Partner, kommt mit Vito zusammen – eine unausweichliche, eine fatale Entscheidung. Die Jugendliebe entpuppt sich als psychologisches Wrack, von innen ausgehöhlt von vielen Jahren der Verlorenheit. Zugleich kann Yasemin sich nicht entziehen: Vito wendet keine willensbrechende Gewalt an, aber eine willensbeugende, manipulative. Viel schwerer ist es, sich gegen so eine Macht zu schützen. Heute würde man das als toxische Beziehung bezeichnen. In dieser Hinsicht ähnelt Deniz Ohdes „Ich stelle mich schlafend“ dem Roman „Muna“ von Terézia Mora, in dem eine Frau ebenfalls als hingebungsvoll Liebende in einem Beziehungs-Alptraum erwacht. Hier wie dort geht etwas zu Bruch. Bei Ohde sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Die Amour fou, ihr Vergehen und das Erwachen aus dem Traum aber scheinen auch etwas Kathartisches zu haben, etwas Emanzipatorisches. „Du bist jetzt ein Mensch, der diese Erfahrung gemacht hat“, sagt die mütterliche Freundin Lydia zu ihr.
„Ich stelle mich schlafend“ arbeitet die emotionalen Schichten in Yasemins Entwicklung in einer Rückschau langsam heraus, verbindet in einem langen Bogen das junge Mädchen mit der Frau, die vor einem abgerissenen Haus steht und ihre Erfahrungen gemacht hat. Es ist ein um Wahrhaftigkeit bemühter Roman, ein lesenswerter – vielleicht auch weil er nicht in jeglicher Hinsicht gelungen ist, sprachlich zuweilen überladen, aber doch von schöner Eindringlichkeit.