Ab den 1950er-Jahren kamen Millionen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Ihre Kinder ließen sie oft jahrelang bei Verwandten in der Heimat, um sie später zu sich in die Fremde zu holen. In der Ausstellung „Kofferkind“ erzählt die Künstlerin Fatma Biber-Born über diese zurückgelassenen Kinder.
In der alten Heimat aufgewachsen, nach Deutschland nachgeholt
„Mein Vater ist nach Deutschland gegangen, als ich sechs Monate alt war. Meine Mutter ein Jahr später, da war ich ungefähr eineinhalb Jahre“, erzählt Zekeriye Uslu. „Und die sind irgendwie einmal im Jahr oder alle zwei Jahre zu Besuch gekommen. Es war normal, das hat jeder gemacht. Man wollte hier arbeiten und so schnell wie möglich zurück.“
Zekeriye Uslu ist Sohn türkischer Gastarbeiter, die ihn Ende der 1960er-Jahre bei seinen Großeltern und anderen Verwandten zurückgelassen haben. Ein paar Jahre später holten sie ihn dann doch nach Deutschland. Eine klassische Kofferkind-Biografie. Er selbst behauptet von sich, dass er das alles ganz gut verkraftet habe. Aber er kennt auch andere Geschichten. Deshalb hat er sich bereit erklärt, bei dem „Kofferkind“-Ausstellungsprojekt der Künstlerin Fatma Biber-Born mitzumachen.
Über eine Million Kinder betroffen
Fatma Biber-Born bezeichnet sich als Gastarbeiterin zweiter Generation. Sie ist bei ihren Großeltern groß geworden, bis sie 14 Jahre alt war. Sie ist auch Gründungsmitglied des Bundesverbands der Migrantinnen in Deutschland. Aber bis sie herausgefunden hat, wie viele Migrantinnen und Migranten die Geschichte vom Zurückgelassen- und Nachgeholt-Werden mit ihr teilen, hat es eine ganze Weile gedauert.
Über eine Million Kinder aus verschiedenen Ländern seien betroffen, so Biber-Born: „Allein aus der Türkei 700.000 und weitere aus Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, ehemaliges Jugoslawien. Über eine Million Kinder sind Kofferkinder gewesen.“
Nachdem Fatma Biber-Born in Mannheim Kunst studiert hatte, näherte sie sich dem Thema schließlich über die Malerei. Nach Vorlagen von Kinderfotos, darunter eines von Zekeriye Uslu, sind berührende, nicht allzu große Porträts entstanden, die auf den ersten Blick wie Schwarz-Weiß-Bilder wirken. Tatsächlich sind sie aber mit Aquarell und Tusche gemalt, eine Technik, die den jungen Gesichtern etwas Zartes und Schwebendes gibt.
Aufgehängt sind die Bilder auf beweglichen weißen Stoffbahnen, die an einem Gestell hängen. Auf dem Boden liegen kleine Texte mit Ausschnitten aus Interviews, die die Künstlerin mit Betroffenen geführt hat.
Die Kinder von früher hängen heute in der Luft
In ihren Interviews machte Fatma Biber-Born einige Entdeckungen: „Viele haben Bindungsprobleme und eine sehr schlechte Beziehung zu ihren Eltern, obwohl sie jetzt über 50 oder 60 Jahre alt sind. Und sie hängen in der Luft.“
Ein wichtiger Teil der Ausstellung ist das Rahmenprogramm mit Zeitzeugen-Gesprächen, etwa mit Zekeriye Uslu. Außerdem ist die Ausstellung nicht fertig, sondern soll weiterwachsen und weiterwandern, damit noch mehr Migrantinnen und Migrantinnen ihre Geschichten erzählen können.
Bonka von Bredow, die Leiterin des Interkulturellen Zentrums in Heidelberg, hält die Auseinandersetzung für sehr wichtig: „Weil wir glauben, dass wir aus der Verarbeitung der eigenen Geschichte als Teil unserer eigenen Migrationsgeschichte lernen und das auf die heutige Zeit übertragen können.“
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