Warum konnte gerade Stuttgart zur deutschen Hauptstadt der Anthroposophie werden? Eine Ausstellung im Stadtpalais Stuttgart beschäftigt sich mit leiser Ironie mit den Anfängen der kontroversen esoterischen Weltanschauung in der Stadt: Besucher können eurythmisch nicht etwa ihren Namen tanzen, sondern eine schwäbische Ur-Vokabel: Maultasche.
Anthroposophie, ein polarisierendes Thema
Der Rhythmus ist schon mal gut. „Stuttgart, Waldorf, Globuli“ lautet der fast schon Rap-reife Titel der neuen Ausstellung im Stadtpalais. Es geht aber nicht um Popmusik, sondern um Stuttgart als Mutterstadt der Anthroposophie.

Kurator Yannick Nordwald hat da so eine gewisse Vorahnung, was die Resonanz seines neuen Themas betrifft: „Ich vermute, dass es eine Ausstellung ist, wo viele Leute viele Meinungen zu haben. Für uns ist die Frage: Warum ist Stuttgart eine Stadt, die diese ganzen Gedanken so aufgenommen hat, dass man hier auch alternative Methoden und Ideen entwickeln konnte.“
Stuttgarter Kernstadt war Hotspot der Anthroposophie
Am Eingang zur Ausstellung hängt eine Karte der Stuttgarter Kernstadt. Darauf sind mit Wimpeln jene Orte markiert, die Bezüge zu Anthroposophie haben.
Im Zentrum braucht es eine Lupe, um die Fähnchen auseinander zu halten, es sind weit über hundert. „Alle zusammen sorgen dafür, dass man in Stuttgart kaum 200 Meter laufen kann, ohne sich an irgendeinem anthroposophischen Ort aufzuhalten“, sagt Nordwald.
Waldorf ist nach Zigarettenmarke benannt
Die Rede ist von Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, Supermärkten, Buchhandlungen, Fabrikstandorten – Moment! Fabriken? Industrie und Esoterik? Aber ja doch! Zu den erfrischenden Aspekten des Themas gehören seine Widersprüche.
Leben Ganzheitlich oder gefährlich? – Kosmos Waldorfpädagogik
Waldorfschulen sind umstritten. Sind sie ganzheitlich und frei von Leistungsdruck? Oder wird dort auch eine gefährliche Weltanschauung vermittelt?
Das beginnt schon mit dem Namen der Waldorf-Pädagogik. Denn die ganzheitliche, auf Kindeswohl und -wachstum ausgerichtete Lehre heißt nach dem gesundheitsschädlichen, hoch profitablen Produkt eines Stuttgarter Fabrikanten: der Zigarettenmarke „Waldorf-Astoria“.
Die allererste Waldorfschule der Welt
Es war die Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Besitzer Emil Molt wollte den Familien seiner Belegschaft etwas nachhaltig Gutes tun, mit einer Schule neuen Typs. Sie steht seit 1919 auf der Uhlandshöhe südlich vom Stuttgarter Hauptbahnhof - die allererste Waldorfschule der Welt.

Ihr Spiritus Rector war ein durchaus schräger Kauz. Rudolf Steiner hatte ein metaphysisches Weltbild kreiert mitsamt Engeln, Karma und Seelenwanderung, und ein angebliches Sachbuch über Atlantis geschrieben.
Die Schwaben schienen bodenständiger als Rudolf Steiner
Seine bodenständigen Anhänger im Schwabenländle hat dergleichen nicht geschockt, sagt Nordwald. „In Stuttgart, so hat man das Gefühl, ging es eher um Ärmel hochkrempeln: 'Alles schön und gut mit den Atlantikern, aber jetzt wollen wir mal hier ein Haus bauen. Dafür brauchen wir jetzt erst mal eine Kapitalgesellschaft.'“
So übertrugen Molt und Mitstreiter ihre Firmen einer Aktiengesellschaft unter dem Einfluss von Rudolf Steiner und unter dem zukunftsfrohen Namen „Der kommende Tag“. Schon bald schlug dem Unternehmen jedoch die letzte Stunde.
Auch Weleda ist in Stuttgart entstanden
„Die anthroposophische Vorstellung der Welt hat vielleicht nicht ganz zum Kapitalmarkt gepasst“, so Nordwald. „Das Projekt ist tatsächlich krachend gescheitert.“

Immerhin ging aus der Konkursmasse die erfolgreiche Marke „Weleda“ hervor. Steiners Aura blieb trotz Insolvenz intakt. Unermüdlich verleibte er seiner Bewegung vieles ein, was an Reform-Ideen in der Luft lag – Medizin, Architektur, Gesellschaftskunde, Öko-Landbau.
Anthroposophie war ein Männerclub
„Rudolf Steiner war sehr belesen und hatte ein Gespür dafür, was die Fragen der Zeit waren: was die Leute interessierte, was sie verärgerte, was sie gebraucht haben, wogegen sie kämpften“, sagt Nordwald. Er habe den Menschen Lösungen angeboten.
So brachte der Charismatiker zwar die Gedanken und seine Jünger zum Tanzen, die gesellschaftlichen Verhältnisse aber nur bedingt. Zirka neun von zehn maßgeblichen Akteuren der Anthroposophie waren Männer. Frauenpower: Fehlanzeige.
Das Stuttgarter Talent, liberal zu sein
Aber das wurde Steiner in Stuttgart ebenso wenig angekreidet wie seine Rituale mit Kutte und Totenkopf. Kurator Yannick Norwald hat eine prägnante Erklärung dafür: das Stuttgarter Talent, liberal zu sein und sich mit allen möglichen Ideen arrangieren zu können.
„auch wenn sie manchmal etwas krude und absurd oder verrückt waren. All diese Sachen konnten in Stuttgart immer schon existieren. Das ist vielleicht ein Grund, warum die Anthroposophie in Stuttgart so Fuß fassen konnte.“