Um ihre überflüssigen Gefühle loszuwerden, die in der KI-kontrollierten Gesellschaft im Jahr 2044 keinen Platz mehr haben, begibt sich Gabrielle auf eine Zeitreise in das vergangene Jahrhundert. Bertrand Bonellos „The Beast“ ist ein konsequenter Film über Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit – mit einer virtuosen Lea Seydoux in der Hauptrolle.
Angst vor einem imaginären Feind
Vor einem komplett grünen Digital-Screen lauscht eine Schauspielerin den Anweisungen eines Regisseurs, der nicht zu sehen, sondern nur über seine Stimme zu hören ist. Bertrand Bonello spricht ihn selbst – und das ist alles andere als ein Zufall.
Die Schauspielerin soll puren Schrecken spielen, die Angst vor einem imaginären Feind. Es ist Entfremdung pur, denn die Schauspielerin kann sich das alles nur vorstellen, muss es aus der Macht nur ihrer eigenen Phantasie erst für die Leinwand erschaffen.
Immer wieder gibt es in diesem Film solche Szenen, in der wir einer Schauspielerin beim Spielen zusehen. Es ist die schlechthin großartige Lea Seydoux, die hier, in ihrem vielleicht bisher allerbesten Film, sämtliche Facetten ihrer Kunst auf die Leinwand bringen kann.
„The Beast“ – ein leichter, sinnlicher Film
Dies, die Ebene des Spiels, ist die allererste von vier Zeit- und Handlungsebenen in diesem Film, der sehr schwer nachzuerzählen ist, aber sehr leicht und sinnlich und ja: wunderschön anzuschauen. Dann bricht das Bild und zerfällt in eine Störung, die sich sofort in den Vorspann verwandelt.
Dieser brillante Anfang liefert sofort einen der Schlüssel zum Verständnis von Bonellos neuem Film: Wir haben es mit einem Werk in ständiger Fragmentierung zu tun, einem hypertextuellen Labyrinth, in dem sich die Geschichten, Genres, Bilder und Referenzen konzeptuell überlagern.
Die Welt im Jahr 2044 wird komplett von künstlicher Intelligenz beherrscht
Wenn nicht alles hier ein Spiel der Kunst und der Auftakt im Green Screen die „wahre Welt“ ist, dann befindet sich die reale Handlungsebene von „La Bête – The Beast“ in der nahen Zukunft des Jahres 2044. Die wird komplett von künstlicher Intelligenz beherrscht; es gibt 60 Prozent Arbeitslosigkeit, den Rest machen die Roboter.
Die von Seydoux gespielte Hauptfigur heißt Gabrielle. Die zwei anderen Zeitebenen des Films, in denen sie sich zeitweise aufhält, sind unsere Gegenwart, kurz vor einer kommenden Katastrophe, die auch einen US-Bürgerkrieg einschließt, und in der nur China Trost und Sicherheit bietet, und die Vergangenheit des frühen 20. Jahrhunderts, das Jahr 1910, kurz vor der Urkatastrophe des Weltkriegs, der diese Welt von gestern ein für alle Mal zerstörte.
Der Film bewegt sich zwischen Science Fiction, Psychothriller und Melodram
Gabrielle bewegt sich zwischen diesen verschiedenen Zeiten. Vielleicht tut sie das mit einer Art von Psychoanalyse und Hypnose oder nur im Traum. Jedenfalls ist dies die Ursituation des Kinos als Traumfabrik.
Im Jahr 1910 erlebten die beiden ein sinnliches, auf 35 mm gedrehtes Melodram, das von Scorseses „The Age of Innocence“ geprägt ist und sich vor dem Hintergrund der Überschwemmung von Paris entfaltet, die sich real ereignete – auch wenn man zunächst glaubt, es handle sich hier um eine wahnwitzige Fiktion. Auf diesen Zeitreisen entdeckt Gabrielle, dass sie in all ihren verschiedenen Existenzen immer in Louis verliebt gewesen ist.
Dies ist Science Fiction, es ist ein von David Lynch inspirierter Psychothriller. Vor allem aber ist „The Beast“ ein hochromantisches Melodram. Worum es Bonello geht, ist eine Kritik der Gegenwart. Es ist glasklar, dass er die neuen Medien und künstliche Intelligenz satirisch und humorvoll kritisiert.
Was bleibt übrig von uns, wenn man Roboter nicht mehr von Menschen unterscheiden kann?
Zugleich gelingt es Bonello unglaublich gut, mit unseren Gefühlen und Empfindungen und Emotionen zu spielen. Es geht ganz ernsthaft darum: Wie lebt man? Was bleibt eigentlich übrig von uns, wenn man Roboter nicht mehr von Menschen unterscheiden kann, wenn man sich in einen Menschen verliebt, der sich dann als Roboter entpuppt?
Oder wenn wir Menschen uns immer mehr selbst den Robotern annähern und roboterhafte Verhaltensweisen entwickeln, wenn wir den Algorithmen gehorchen und den kleinen Maschinen, die uns lenken?
„The Beast“ – der beste Film des Jahres
Bonellos „The Beast“ ist ein konsequenter Film über Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Ein kluger facettenreicher Film, und ein höchst virtuoser im mehrfachen Sinn: Er zeigt die Virtuosität dieses Regisseurs, er zeigt auch die Virtuosität von Lea Seydoux, und er zeigt die Möglichkeiten des Kinos.
„The Beast“ ist, kurz gesagt: Der beste Film des Jahres!
Trailer „The Beast“ - ab 10. Oktober 2024 im Kino
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