Mit seinem Hunsrück-Epos „Heimat“ hat Edgar Reitz in den 1980er Jahren deutsche Filmgeschichte geschrieben. Bei der Berlinale präsentiert er seinen neuen Film über den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Edgar Selge in der Titelrolle gibt seinem Leibniz eine solch zugewandte Menschlichkeit, dass man ihm gerne auch auf den teils sehr abstrakten Gedankengängen folgt.
Der Hofmaler verzweifelt am Philosophen Leibniz
In eine vorgefertigte Schablone lässt sich der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz nicht pressen. Das muss der Hofmaler im Jahr 1704 schnell feststellen. Dabei hat er das bestellte Gemälde bereits zu Beginn der Porträtsitzung so gut wie fertig.
Nur noch die Gesichtszüge Leibniz‘ muss er in den leeren Fleck unter der Perücke einfügen. Doch statt eine ehrwürdige Miene aufzusetzen und sich zügig malen zu lassen, bezweifelt Leibniz die Fähigkeit der Kunst, mehr als ein bloßes Abbild zu erschaffen. Entnervt von den Zweifeln an seiner Kunst schmeißt der Hofmaler hin.
Das Lebenswerk eines Universalgenies in hundert Minuten
Auch dem Filmemacher Edgar Reitz macht es Leibniz über 300 Jahre später nicht leicht. Wie lässt sich das Lebenswerk eines Universalgenies in hundert Minuten auf die Leinwand bringen? Leibniz gilt als wichtiger Vordenker der Aufklärung.
Zeitgenossen Edgar Reitz „Ich habe mich als Pionier gefühlt“
Edgar Reitz sagte mal, dass die Wiederbegegnung mit seiner Heimatlandschaft Hunsrück sein Interesse am Geschichtenerzählen erst so richtig geweckt habe. Seine Jahrhundertchronik über das Hunsrückdorf Schabbach hat Filmgeschichte geschrieben.
Er brillierte in Philosophie, Theologie und Jura ebenso wie in Mathematik, Physik und Technik. Dabei verknüpfte er Gedanken aus verschiedenen Disziplinen zu einem ganzheitlichen Ansatz. Neben unzähligen Erfindungen für den Alltag legte er mit dem binären System zugleich die Grundlagen der Computertechnik. Auch die erste mechanische Rechenmaschine stammt von Leibniz.
Edgar Reitz saß 10 Jahre am Drehbuch
Zehn Jahre lang hat Regisseur Edgar Reitz zusammen mit Gert Heidenreich immer neue Drehbücher für diesen Film geschrieben und sich schließlich – vermutlich auch aus finanziellen Gründen – für radikale Reduktion entschieden.
Statt Lebensstationen und Verdienste abzuklappern, inszeniert er „Leibniz. Chronik eines verschollenen Bildes“ als auf wenige Tage konzentriertes Kammerspiel rund um die Entstehung des Gemäldes. Nach dem Scheitern der Sitzung mit dem Hofmaler übernimmt eine junge niederländische Künstlerin, die sich zunächst als Mann tarnt.
Diskurs über das Wesen der Kunst
Das kann er beziehungsweise sie. Zwischen der Malerin und dem Philosophen entspinnen sich lange Diskussionen über Gott, das Leben und das Wesen der Kunst: Wie sie im besten Fall einen Menschen in seiner ganzen Persönlichkeit erfassen kann, wie sie es schafft, Zeit im Bild festzuhalten.
Es sind Fragen, die Edgar Reitz für seine eigene Kunst ebenfalls beschäftigen. Schließlich versucht auch er als Chronist deutscher Geschichte die Zeit wahrhaftig einzufangen.
Hauptdarsteller Edgar Selge macht den Universalgelehrten verständlich
Von seinem Publikum verlangt der 92-jährige Regisseur mit diesem anspruchsvollen Film viel Lust am Mitdenken. Dass man bei all den theoretischen Erörterungen nicht verloren geht, ist auch Hauptdarsteller Edgar Selge zu verdanken. Er gibt seinem Leibniz eine solch zugewandte Menschlichkeit, dass man ihm gerne auch auf den teils sehr abstrakten Gedankengängen folgt.
Das Gemälde, um das sich im Film alles dreht, bekommt man übrigens bis zu zum Ende nicht zu sehen. Stattdessen entsteht ein filmisches Porträt. Es macht neugierig, diesen modernen grenzüberschreitenden Denker näher kennenzulernen.
„Leibniz. Chronik eines verschollenen Bildes“ von Edgar Reitz hat noch keinen Kinostart-Termin
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