Ein Mädchen kann plötzlich alles hören und sehen, was seine Eltern machen, auch wenn sie ganz woanders sind. Der erste deutsche Beitrag im Berlinale-Wettbewerb, „Was Marielle weiß“, von Fédéric Hambalek erzählt, was diese Totalüberwachung in der Familiendynamik auslöst.
Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch eine Zehnjährige
Was passiert, wenn es im eigenen Leben keinen Winkel Privatsphäre, kein einziges Geheimnis mehr gibt? Wenn man Tag und Nacht überwacht wird, und zwar nicht vom Staat oder irgendwelchen Algorithmen, sondern vom eigenen Kind? So geht es plötzlich Tobias und Julia, den Eltern von Marielle. Nach der Ohrfeige einer Freundin verfügt das Mädchen plötzlich über telepathische Fähigkeiten.

Marielle durchschaut das oberflächlich harmonische Familienleben
Was diese Überwachung für ihr Leben bedeutet, spüren Tobias und Julia schnell. Denn Marielle weiß nicht nur, dass Tobias Selbstdarstellung als harter Hund im Büro wenig mit der Realität zu tun hat. Sie musste auch mitanhören, wie sich die von ihrer Ehe angeödete Julia in der Firma mit einem Kollegen gemeinsamen Sex ausgemalt hat.
Im Grunde erkennt das Mädchen mit einem Mal, dass das oberflächlich harmonische Familienleben auf tönernen Füßen steht. Und dass Erwachsene in Beziehungen offenbar ziemlich oft unehrlich miteinander umgehen, wie ein mitgehörtes Gespräch zwischen Julia und ihrer Freundin Annette zeigt. Marielle reportiert es ihrem interessierten Vater im Auto brühwarm.

„Was Marielle weiß“ überzeugt als schräge Familienaufstellung mit viel Komik
Regisseur und Drehbuchautor Frédéric Hambalek entwickelt die Grundsituation in „Was Marielle weiß“ zu einer schrägen Familienaufstellung. In schnellen witzigen Dialogen kostet er aus, wie Julia Jentsch und Felix Kramer als Eltern panisch versuchen, vor ihrer Tochter ihr bestes Ich zu zeigen oder zumindest den Anderen blöd dastehen zu lassen.
Denn was sie sich seit Jahren über sich selbst und ihre Beziehung in die Tasche gelogen haben, hält dem unbestechlichen Blick der Tochter nicht stand. Dieses verschobene Machtverhältnis erzeugt einige sehr komische Momente.
Regisseur Frédéric Hambalek bewahrt die Komödie vor dem Kippen
Zum Beispiel wenn der konfliktscheue Tobias im Büro plötzlich für sein unsichtbares Publikum zu großer Form aufläuft. Oder wenn die Eltern in Gesprächen wie Theaterschauspieler für die Galerie performen, die eigentliche Botschaft aber höchstens noch im Subtext unterbringen können. Bevor es allerdings richtig weh tut und die Komödie ins Tragische kippen könnte, zieht Frédéric Hambalek die Handbremse.
Statt die Eskalation auf die Spitze zu treiben, bekommt die Geschichte einen Dreh ins Moralische und trudelt etwas unentschlossen aus.
Unterhaltsamer Film, der aber nicht so richtig in die Tiefe bohrt
Unbeleuchtet bleibt zudem, was die ungewollten Einblicke ins Erwachsenenleben eigentlich mit einer Zehnjährigen machen und wie man sich das vorzustellen hat, wenn neben den eigenen Gedanken noch zwei zusätzliche Livestreams im Hirn einlaufen. „Was Marielle weiß“ untersucht die kleinen und großen Lebenslügen, in denen sich die saturierte deutsche Mittelschicht so bequem eingerichtet hat wie in ihren sterilen Wohnungen.
So richtig in die Tiefe bohrt der Film dann zwar nicht in Fragen Überwachung, Vertrauen und Familienbeziehungen. Enorm unterhaltsam ist er aber allemal. Und man selbst unendlich dankbar, dass die eigenen Kinder nicht über diese Gabe verfügen.