Waisenmädchen erfinden die Popmusik

„Gloria“ von Margherita Vicario: Die befreiende Kraft der Musik

Stand
Autor/in
Julia Haungs
Julia Haungs, Autorin  und Redakteurin, SWR Kultur

Über Jahrhunderte wurden Leistungen von Frauen systematisch ignoriert oder Männern zugeschrieben, auch die von Komponistinnen. In ihrem Regiedebüt „Gloria!“ erzählt Regisseurin Margherita Vicario von einer Gruppe junger Musikerinnen im 18. Jahrhundert, deren Talent lange unentdeckt bleibt und sich dann Bahn bricht. Dabei überrascht der Film mit einer steilen These.

Die Entdeckung des Klaviers

Könnte es sein, dass die Popmusik bereits um das Jahr 1800 erfunden wurde? In einem Lagerraum einer italienischen Provinzkirche? Vielleicht von einer Gruppe junger Frauen, die dort ein neuartiges Instrument finden und ein bisschen darauf herumprobieren?

Die Entdeckung des Klaviers ist der Ausgangspunkt für Margherita Vicarios märchenartige Geschichte von weiblicher Selbstbehauptung und Kreativität. Den gezielten Anachronismus der Popmusik bettet die Regisseurin in einen verbürgten historischen Kontext ein, den sie mit großer Liebe zum Detail ausgestaltet.

Filmszene "Gloria!": Lucia (Carlotta Gamba) blickt links aus dem Bild. Sie hält eine Geige in der Hand.
Venedig um 1800: Im Kollegium Sant Ignazio, einer alten Musikschule für mittellose Mädchen, unter ihnen Lucia (Carlotta Gamba). Bild in Detailansicht öffnen
Filmszene "Gloria!": Teresa (Galatéa Bellugi) blickt verschüchtert aus dem Fenster.
Sie ist eins von mehreren Mädchen mit unglaublichem musikalischen Talent, genauso wie die Magd Teresa (Galatéa Bellugi): Sie kann die Wirklichkeit als Rhythmus erleben, ihre Schönheit wahrnehmen und sie durch Musik verändern. Bild in Detailansicht öffnen
Filmszene "Gloria!": Teresa (Galatéa Bellugi) sitzt am Pianoforte und dreht sich zum Betrachter hin
Teresa (Galatéa Bellugi) entdeckt eine brandneue, aber auch unheimliche Erfindung, ein wunderschönes Instrument: ein Pianoforte. Virtuos entfacht sie darauf ein musikalisches Klangfeuerwerk. Bild in Detailansicht öffnen
Filmszene "Gloria!": Die Konventsschülerinnen beugen sich lachend über das neuentdeckte Pianoforte.
Um Teresa und die revolutionäre „Musikmaschine“ versammelt sich ein außergewöhnliches Quartett von jungen Frauen, zunächst als Rivalinnen, dann zunehmend als Komplizinnen. Bild in Detailansicht öffnen
Filmszene "Gloria!": Marietta (Maria Vittoria Dallasta), Bettina (Veronica Lucchesi) und Prudenza (Sara Mafodda) sitzen in Morgenröcken zusammen und blicken in ein Buch.
Die Freiheit der weiblichen Stimme: Mit wachsendem Mut bringen die Waisenmädchen Marietta (Maria Vittoria Dallasta), Bettina (Veronica Lucchesi) und Prudenza (Sara Mafodda) ihre kreativen Gedanken zu Papier. Es entsteht ein revolutionärer, femininer Sound, den die Welt ganz sicher nicht erwartet hat. Bild in Detailansicht öffnen

Mädchen als unsichtbare Musikerinnen in der Kirche

Die fünf Protagonistinnen leben in einem der venezianischen Ospedali, den Waisenhäuser der Kirche. Die mittellosen Mädchen, die dort aufwuchsen, bekamen eine hervorragende musikalische Ausbildung. Diese diente allerdings einzig der Gestaltung der Gottesdienste. Verborgen hinter Vorhängen kamen sie dort als Chormädchen und als Orchestermusikerinnen zum Einsatz.

„Gloria!“ verhilft diesen unsichtbaren und vergessenen Musikerinnen zu neuer Sichtbarkeit. Ihr Talent könnte der alte Kapellmeister Perlina gut gebrauchen: Anlässlich eines anstehenden Papstbesuches in seiner Gemeinde soll er ein Konzert schreiben, doch es will ihm nichts einfallen.

Singer-Songwriterinnen machen sich frei von Kompositionsregeln

Bei Tag unterwerfen sich die jungen Frauen also weiter dem Diktat Perlinas und fiedeln dessen uninspirierte Kirchenmusik runter. Nachts jedoch entwickeln sie sich am Klavier zu Singer-Songwriterinnen.

Frei von akademischen Kompositionsregeln entdecken sie den jazzigen Beat gegen den Takt und fangen an, in den Songs ihre eigenen Gefühle auszudrücken. Regisseurin Margherita Vicario versprüht großen Enthusiasmus und lässt „Gloria!“ in einer mitreißenden Feier der Musik gipfeln.

Filmszene "Gloria!": Die Mädchen tuscheln im Speisesaal miteinander.
Während sich im Kollegium alles um den bevorstehenden Besuch des frisch inthronisierten Papstes dreht und der alte Kapellmeister sich mit einer Komposition für den Pontifex abmüht, macht Teresa in der Abstellkammer eine Entdeckung.

„Gloria!“ bleibt oft in den Konventionen des Kostümfilms stecken

Bis es zu diesem unerwartet anarchischen Finale kommt, bleibt der Film allerdings oft in den Konventionen des Kostümfilms stecken. Was die Mädchen erleben, besteht aus stereotypen Versatzstücken, darunter ein Selbstmordversuch aus Liebeskummer, eine vertuschte Vergewaltigung samt Kindesentzug und eine drohenden Zwangsheirat mit einem Greis.

Auch die Art, wie die jungen Frauen inszeniert werden, mit errötenden Wangen, großen staunenden Augen und bebenden Dekolletés, wirkt für eine Geschichte, die doch von weiblicher Revolution erzählt, reichlich angestaubt.

Powerballaden aus dem 18. Jahrhundert sorgen für gute Laune

Dennoch entfaltet der Film Charme und bringt gute Laune. „Gloria!“ glaubt so fest an die befreiende Kraft der Musik, dass man am Ende fast alles für möglich hält. Sogar dass unter den Musikstücken der vergessenen Komponistinnen vergangener Epochen die eine oder andere Powerballade gewesen sein könnte.

Trailer „Gloria!“, ab 29.8. im Kino

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