Donaueschinger Musiktage 2023

Von der Elektronikpionierin zur Instrumentalkomponistin – Éliane Radigue im Portrait

Stand
Autor/in
Leonie Reineke

Musik der Langsamkeit

Die französische Komponistin Éliane Radigue zählt zu den bekanntesten Elektronikpionierinnen des 20. Jahrhunderts. Sie entwickelte eine Tonsprache, die sich in subtilen Veränderungen vollzieht – eine Musik der Langsamkeit. Nach der Jahrtausendwende begann sie, auch für akustische Instrumente zu komponieren.

Éliane Radigue zählt zu den bekanntesten Elektronik-Pionierinnen des 20. Jahrhunderts. Musikalisch sozialisiert im Kreis der musique concrète um Pierre Schaeffer, entwickelte sie seit den 1960er und 70er Jahren ihre eigene, unverwechselbare Klangsprache: eine Musik der Langsamkeit und der subtilen Veränderungen.

Materialistische Sparsamkeit

Die 1932 in Paris geborene Französin verbrachte die meiste Zeit ihrer Laufbahn mit einem einzigen Instrument: dem analogen Modularsynthesizer ARP-2500.

Damit schuf sie Musik von maximaler Sparsamkeit im Material; akustische Szenerien, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen und in denen vordergründig nicht viel zu passieren scheint. Erst bei genauem Hinhören offenbaren sich unzählige Details und Mikrostrukturen.

Genau hinhören!

Um Élianes Musik zu verstehen, muss man keinen Code knacken oder ein System durchschauen. Sondern es geht darum, die einzelnen Klangschichten bewusst wahrzunehmen. Das ist ein bisschen wie, als würde man das Meer betrachten. Wenn man das Meer aus der Ferne anschaut, sieht man eine ebenmäßige Fläche.

Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man Wellen. Vielleicht sogar kleinere Wellen, die sich innerhalb von großen Wellen entfalten. Das kann man besonders gut erkennen, wenn man sich eine Videoaufnahme des Meeres anschaut und sie in höherer Geschwindigkeit abspielt. Es geht also ums genaue Beobachten, um die phänomenale Dimension von Élianes Musik.

Letzte elektronische Kompoistion 2000

Der ARP-2500-Synthesizer prägte Éliane Radigues Schaffen über dreißig Jahre. 1970 entdeckte sie das Instrument und arbeitete fortan ausschließlich mit ihm. Im Jahr 2000 schuf sie dann mit dem Stück „L’île re-sonante“ ihre letzte elektronische Komposition.

Nach der Jahrtausendwende gab sie das Komponieren mit dem Synthesizer auf und begann, nur noch für akustische Instrumente zu schreiben.

Wasser-Szenarien

Éliane Radigue betrachtet ihre Instrumentalstücke als lebendige Organismen, die sich verändern können. Statt mit Partituren arbeitet sie mit der Imagination von Bildern. Häufig sind es Szenarien mit Wasser.

Diese Bilder sind keine festen Setzungen, sondern nur Anregungen für die Instrumentalisten. Sie sollen sich ihr persönliches Wasser-Szenario vorstellen und werden damit teilweise zu Mit-Schöpfern der Musik.

So auch in der jüngsten Komposition, dem Orchesterstück „Occam Océan Cinquanta“ – einer Arbeit, die Radigue gemeinsam mit der Klarinettistin und Komponistin Carol Robinson für die Donaueschinger Musiktage 2023 entworfen hat.

Musikalische „Denk-Gemeinschaft“

In Éliane Radigues Instrumentalmusik geht es nicht um das Interpretieren einer exakt ausnotierten Partitur. Sondern es geht um einen lebendigen Austausch zwischen Komponistin, Musikern und Zuhörern. Einen Austausch des Hörens, ein Bild, das in der Luft liegt, eine musikalische „Denk-Gemeinschaft“.

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Autor/in
Leonie Reineke