Ugly Chic à la Balenciaga
Crocs mit Plateausohle, klobige Dad-Sneakers und Mülltüten als It-Pieces: zweifellos Balenciaga. Seit der deutsch-georgische Stardesigner Demna Gvasalia 2015 das Zepter übernommen hat, setzt das Traditionslabel auf radikalen Stilbruch und kratzt an den Grenzen des guten Geschmacks.
Balenciaga ist derzeit die meist-gehypte Fashionbrand weltweit. Ob's gefällt oder nicht: Demnas „Ugly Chic“ hat die Mode des noch jungen 21. Jahrhunderts revolutioniert.
Cristóbal Balenciaga würde sich vermutlich im Grabe umdrehen. MIt Fast Fashion wollte der Labelgründer nie etwas zu tun haben. Wer erinnert sich noch an die maßgeschneiderte, exquisite Couture, mit der der visionäre Modeschöpfer in den 1950er Jahren die Modewelt revolutioniert hat?
1937: Ein Baske kommt nach Paris
Eine Erfolgsgeschichte, die 1917 beginnt. Der 22-jährige Cristóbal Balenciaga macht sich im baskischen San Sebastián mit seinem eigenen Modelabel selbstständig. Aus wohlhabenden Verhältnissen stammt er nicht, dafür ist er äußerst talentiert. Die einflussreichsten Damen Spaniens sind bald seine Kundinnen.
Doch erst, nachdem Balenciaga wegen des spanischen Bürgerkriegs nach Paris umziehen muss, gelingt ihm der ganz große Durchbruch. Hier setzt auch die Miniserie „Cristóbal Balenciaga“ auf Disney+ an, die in sechs Episoden vom Leben des Modeschöpfers während seiner Pariser Jahre ab 1937 erzählt.
Trailer „Cristóbal Balenciaga“ auf Disney+
Christian Dior kleidete Paris ein
Der Umzug in die französische Mode-Metropole bedeutet für den erfolgsverwöhnten Designer den Karriereknick. Die Modewelt an der Seine ist am Vorabend des Zweiten Weltkriegs fest in der Hand von Modegrößen wie Coco Chanel.
Und den Look der Pariser Nachkriegsgesellschaft gibt vor allem ein Couturier vor: Christian Dior.
Nach entbehrungsreichen Jahren bringt Dior mit seinem „New Look“ den Glamour zurück in die Stadt. Die voluminösen Röcke, barocken Ballkleider und engen, paillettenbestickten Taillen treffen den Nerv der Zeit. Balenciaga kann damit wenig anfangen.
Befreiung von der Sanduhr-Silhouette
Auf dem Höhepunkt von Christian Diors Prinzessinnen-Chic macht sich Cristóbal Balenciaga daran, die Haute Couture von der im Westen jahrhundertelang tradierten Sanduhr-Silhouette zu befreien. Seine Schnitte sind schlicht, neuartig – und stoßen die Modewelt zunächst vor den Kopf.
Das Sackkleid zum Beispiel: Statt die Taille zu betonen, fällt der Stoff von den Schultern bis zu den Knien gerade herunter. Balenciaga nannte es die I-Linie. Die Leute fanden es hässlich, heute findet man den Schnitt in jedem Kleiderschrank.
Balenciaga experimentierte mit kastigen Silhouetten, Oversize-Looks, runden oder spitz zulaufenden Schnitten und schuf Kreationen, die zeitlos sind. Melonenärmel, Ballonröcke, Sack- und Babydoll-Kleider sind alles Erfindungen von Cristóbal Balenciaga.
Außergewöhnliche Kreationen
Stets ist der Stoff der Ausgangspunkt für Balenciagas Arbeit. Anstatt eine Idee zu skizzieren und nach dieser ein Kleid schneidern zu lassen, betrachtet er das Material: Wie schwer ist es? Wie würde es fallen? Für welchen Schnitt eignet es sich?
Balenciaga modelliert den Frauenkörper wie eine Skulptur. Seine Kreationen sind mehr als ungewöhnlich, sie sind avantgardistisch. Er beherrscht sein Handwerk meisterlich und drapiert die Stoffe derart gekonnt um den Körper der Frau, dass seine Kreationen architektonische Formen annehmen.
Der Designer der Filmstars
Alltagstauglich sind diese Kleider nicht. Als wahrer Haute Couturier hatte Balenciaga auch kein Interesse daran, die Masse zu bedienen. Seine Kreationen sind Einzelstücke, ästhetisch visionär und von exquisiter Qualität. Das muss man sich erstmal leisten können.
Neben Filmstars wie Grace Kelly, Marlene Dietrich, Elizabeth Taylor, Ava Gardner, Greta Garbo und Audrey Hepburn zählen Aristokratinnen, Künstlerinnen oder Politiker-Gattinnen wie Jackie Kennedy zu seinen Kundinnen – Mode für eine einflussreiche, modebewusste und wohlhabende Elite.
Prêt-à-porter kommt – Cristobal geht
In den 1960er-Jahren ist Cristóbal Balenciaga der unangefochtene Meister der Haute Couture. Als diese ihren Niedergang erlebt, hängt er 1968 sein Metier an den Nagel.
Der Grund: Prêt-à-porter erobert die Modewelt – Stangenware. Mit Luxusgütern für die Massen will Cristóbal Balenciaga nichts zu tun haben.
Gothik-Shirts vom Flohmarkt für 900 Euro
Jahrzehntelang schlummert das Label Balenciaga daraufhin als Parfum-Marke in der Bedeutungslosigkeit. Dann wird es verkauft und in den Nullerjahren als Streetstyle-Label wiederbelebt. Der Aufstieg zum It-Brand folgt unter Demna Gvasalia ab 2015 kometenhaft.
2024 verkauft Balenciaga für 900 Euro Sweatshirts im Gothik-Look, die aussehen wie vom Flohmarkt. Cristóbal Balenciaga hätte sich gegen diesen Fummel gesträubt.
Doch eine Freude hätte der Gründervater an seinem Label heute trotzdem gehabt: Demna Gvasalia gibt 2021 bei Balenciaga sein Haute Couture-Debüt. Denn bei allem Rebellentum: Einen künstlerischen Anspruch an Mode behautet auch er von sich.