Bei den Herbstfestspielen im Festspielhaus Baden-Baden „La Grande Gare“ steht Französisches auf dem Programm. Im Mittelpunkt: Jules Massenets Goethe-Oper „Werther“ – eine Neuproduktion in der Regie von Robert Carsen mit dem Orchester des Balthasar Neumann-Ensembles unter der Leitung von Thomas Hengelbrock und dem Chor Cantus Juvenum Karlsruhe. In der Titelparte gastiert Jonathan Tetelman erstmals in Baden-Baden und Kate Lindsey singt seine Angebetete Charlotte.
Robert Carsens „Werther“ ist in der Welt der Bücher angesiedelt
In Johann Wolfgang von Goethes Briefroman ist Werther eine Leseratte. Denn die Schrifterzeugnisse dieses Unglücksraben sind gespickt mit Bildern und Emotionen aus der Literatur. Robert Carsens Inszenierung von Jules Massenets Goethe-Oper „Werther“ am Festspielhaus in Baden-Baden bleibt dieser Linie treu und ist ganz in der Welt der Bücher angesiedelt.
Hier kommt niemand mehr aus den Seiten heraus. Dafür hat der Bühnenbildner Radu Boruzescu eine Replik der mehrstöckigen Bücherregale des Studienzentrums der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek auf die Bühne gestellt, wenngleich Goethe erst nach seinem Erfolgswerk dort ankommen sollte.
Nur einer liest nicht
Die Botschaft scheint klar: Wer die Literatur mit der Realität verwechselt, kommt dabei um. Während den Schulkindern zu Beginn an den Pulten noch das Weihnachtssingen eingetrichtert wird, verlieren sich Werther, Charlotte, ihre Schwester Sophie und viele andere in den bedruckten Seiten der Empfindsamkeit.
Nur einer liest nicht: Albert, dem Charlotte auf dem Totenbett der Mutter die Ehe versprochen hat. Er ist der Kalkulierende und nötigt Charlotte, dem unglücklich liebenden, todessüchtigen Werther die Pistole für den Selbstmord zu bringen.
Das Bild am Ende ist natürlich grandios: Die meterhohen Bücherregale sind leergeräumt und der sich totschießende Werther liegt fürs letzte entgrenzende Liebesduett auf einem angehäuften Bücherberg als Trümmerhaufen der Literatur.
Werther verliert in der Inszenierung seinen Außenseiterstatus
Lesen kann gefährlich sein. Die aus dem Text erwachsenden Vokalsteigerungen in Massenets Partitur sind in der Tat nicht ganz von dieser Welt. Dass der Komponist allerdings damit die profane gesellschaftliche Realität durchkreuzt, ist für die geschlossene Welt der Inszenierung ein Problem.
Die goldene Hochzeit des Pastors im zweiten Akt, diese Feier der bigotten Bürgerlichkeit und der heiligen Ehedreifaltigkeit, wird in dieser Aufführung kurzerhand gestrichen. Damit verliert aber Werther seinen Außenseiterstatus, wenn er die bedingungslose Hingabe an Leidenschaft und Gefühl nicht mehr aus der Revolte gegen dieses Normative zieht, sondern allein aus der Kopfgeburt seiner Hingabe an den literarischen Text.
Jonathan Tetelman und Kate Lindsey sind ein Traumpaar
Jonathan Tetelman erfüllt diese Hingabe allerdings bedingungslos. Er ist die Verkörperung Werthers, nicht seine Darstellung. Und mit Kate Lindseys Charlotte hat er das ebenbürtige Gegenüber. Sie sind in jeder Hinsicht ein grandioses Traumpaar.
Dennoch ist ein Aber nicht zu unterschlagen. Tetelman ist ein im italienischen Fach geübter Tenor, ein toller Melodiker mit strahlender Höhe, der die Partie durchsingt. Was noch fehlt, ist die schwebende Diktion des typisch französischen Sprechgesangs, der Massenet nun einmal von Puccini unterscheidet.
Diese Vokaltechnik beherrscht Kate Lindsey wiederum perfekt mit einem Umbraton in der Stimme, fast herb und gerade deshalb so atemberaubend schön, wenn sie dann in Himmelshöhen steigt. Die an keine Fatalität denkende Sophie der Elsa Benoit ist hinreißend. Und Nikolai Zemlianskikh als Albert ist gefährliche Noblesse.
Eine eindringliche Musiktheaterproduktion
Thomas Hengelbrock durchleuchtet am Pult des Balthasar-Neumann-Orchesters die subtilen Klangfarben in Massenets Partitur und bringt den traurig-herben Ton des sensiblen Altsaxophons im letzten Todesakt zum Tragen.
Gelegentlich vernachlässigt sein Dirigat den gebrochenen Charme einer Theatermusik und neigt mehr zur geradlinigen Vokalsinfonie. Am herausragenden Gesamteindruck dieser eindringlichen Musiktheaterproduktion ändert das aber nichts.