Opernkritik

Bizets „Carmen“ in Zürich: Das Populärste ist auch das Schwerste

Stand
Autor/in
Bernd Künzig

George Bizets 1875 in Pariser uraufgeführte Oper „Carmen“ ist heute beim Publikum äußerst beliebt. Das war nicht von Anfang an so, denn mit diesem Stück war für die Oper alles neu gesetzt: Realismus, Sexiness und eine Titelheldin, die keineswegs dem Klischee einer Opernheroine entspricht. Den Ort der Uraufführung, die Pariser Opéra Comique, bezieht Intendant und Regisseur Andreas Homoki in seine Neuproduktion am Opernhaus Zürich mit ein.

Frei von Klischees

Mit Klischees hat Regisseur Andreas Homoki in seiner Züricher „Carmen“ gründlich aufgeräumt: Kein Spanien, keine Bohémienne, keine Schmuggler, keine Stierkampfarena. In Paul Zollers Bühne auf der Bühne wird stattdessen eine Oper gespielt, die George Bizets „Carmen“ sein könnte – zumindest der Musik nach.

Im Theaterhintergrund ist die Brandmauer der Opéra Comique dominant, dem Uraufführungsort der Oper. Der Tenor taumelt zur überhetzten Ouvertüre herein und rutscht in die Rolle des Don José. Der Chor repräsentiert die amüsierfreudige Bourgeoisie an Theatergängern um 1875.

Oper Carmen von Georges Bizet am Opernhaus Zürich
Der Chor repräsentiert die amüsierfreudige Bourgeoisie an Theatergängern um 1875. Im Vordergrund: Carmen mit rotem Haarband (Marina Viotti).

Und dann kommt Carmen als Superweib mit rotem Haarband und leicht geschürztem Rock. Eher bedrohlich als sexy singt Marina Viotti die Habanera. Die Männer mit Frack und Zylindern liegen ihr zu Füßen, als sei es eine Operette von Léhar.

Zeigefingertheater

Und dann geht der rote, beblümte, geraffte und mit Zierkordeln versehene Theatervorhang auf und zu und hoch und runter. Unzählige Male bis zum Ende. Ein grauer Vorhang im zweiten und ein schwarzer mit Goldborte im letzten Akt ergänzen dieses Zeigefingertheater: Hier wird Oper gespielt.

Nach der Pause gibt es im dritten Akt einen Zeitsprung. Das Schmugglermilieu befindet sich im besetzten Paris von 1944. Carmen im Ledermantel und mit links gereckter Faust ist eine Kämpferin an der Widerstandsfront. Im letzten Akt sind wir dann in unserer Gegenwart der Fußball- oder Stierkampfparty vor der Glotze mit Fernsehantenne gelandet.

Oper Carmen von Georges Bizet am Opernhaus Zürich
Zeitsprung im dritten Akt ins besetzten Paris von 1944: Carmen wird zur Kämpferin an der Widerstandsfront.

Schöne Bilder mit Theatervorhängen

Dann wird die mit Konfetti übersäte Bühne geräumt zum finalen Showdown von Carmen und Don José. Hin und her gerissen zwischen seiner Micaela als Krankenschwester, die ihn haben will und Carmen als Freiheitskämpferin, die ihn nicht haben will, kann er nicht anders, als die vergeblich Begehrte niederzustechen.

Die Oper ist aus und der Vorhang rauscht hoch. Vielleicht könnte jetzt das Stück beginnen, das „Carmen“ heißt. Das Davor ist wohl eine Hommage an den Theaterort der Uraufführung, was auch immer das nun besagen will. Wer schöne Bilder mit Theatervorhängen und dem leeren Bühnenraum mag, kommt hier absolut auf seine Kosten.

Oper Carmen von Georges Bizet am Opernhaus Zürich
Der Theatervorhang spielt im Bühnenbild eine große Rolle.

Für Liebhaber von Bizets Meisterwerk ist es schwieriger. Friedrich Nietzsche meinte einmal, diese Musik schwitze nicht. Als ob es gelte, den Philosophen zu widerlegen, lässt es Dirigent Gianandrea Noseda ordentlich krachen. Diese „Carmen“ ist eine schweißtreibende Angelegenheit.

Die Sängerinnen und Sänger haben es nicht einfach

Für die Stimmen ist das nicht gerade einfach. Saimir Pirgu präsentiert sich als Don José wie für eine Puccini-Partie und tobt mit heldentenoraler Eifersucht. Die Micaela von Natalia Tanasii ist mächtig und keineswegs eine zartbesaitete Rot-Kreuz-Vertreterin.

Oper Carmen von Georges Bizet am Opernhaus Zürich
Star-Tenor Saimir Pirgu als Don José Saimir Pirgu präsentiert sich wie für eine Puccini-Partie.

Lukasz Golinski „wobbelt“ sich durch die Partie des Stierkämpfers Escamillo. Marina Viottis Debüt in der Titelpartie ist eindrücklich, hat aber wenig mit dem raffinierten Changieren zwischen sprechendem Gesang, Sexappeal und Freiheitsruf zu tun. Der Alltagstonfall der gesprochen Dialoge gerät zu einem seltsam theatralischen Französisch. Der Kinderchor ist aber hinreißend.

Oper Carmen von Georges Bizet am Opernhaus Zürich
Der Kinderchor der Oper Zürich ist hinreißend.

Keine stringente Interpretation von „Carmen“

Eleganz, lyrische Leichtigkeit und das Gespür für die Mixtur aus romantischem Gefühl, Liedstück, Vaudeville und großer Choroper werden eingeebnet zu einem phonstarken Durchbuchstabieren der Partitur.

Ein sattelfest großstädtisches Opernhaus müsste eigentlich eine sowohl szenisch als auch musikalisch stringentere Interpretation hinbekommen, um im Heute zu zeigen, wer oder was „Carmen“ ist. Es zeigt sich: das Populärste ist auch das Schwerste.

Zürich

Oper Opernredakteur Bernd Künzig über die „Simon Boccanegra“-Premiere in Zürich

Am Wochenende hat am Opernhaus Zürich eine Neuproduktion von Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ Premiere gefeiert. In der Inszenierung von Andreas Homoki gab der Bariton Christian Gerhaher sein Rollendebüt, Fabio Luisi dirigiert seine letzte Verdi-Produktion als Zürcher Generalmusikdirektor. SWR2-Opernredakteur Bernd Künzig schildert seine Eindrücke der Premiere, die unter Corona-Sicherheitsvorkehrungen stattgefunden hat und vom SWR in Koproduktion mit ARTE mitgeschnitten worden ist.

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Musikmarkt: Buch-Tipp Wolfgang Seidel: „Die Braut des Holländers" - Berühmte Frauengestalten in der Oper

Ob Tosca, Salome, Carmen oder Lulu: Opern sind voll von starken, faszinierenden und facettenreichen Frauenfiguren. In seinem Buch „Die Braut des Holländers“ erzählt der Münchner Autor und passionierte Operngänger Wolfgang Seidel von ihren Schicksalen, Leidenschaften und Launen. Christoph Vratz hat das Buch gelesen und zusammengefasst.

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