Ausruhen. Das will die Ich-Erzählerin in „Siegfried“. Antonia Baum schreibt in ihrem neuen Roman über Familie, Beziehung, Überforderung, aber auch darüber, wie die Erfahrungen aus der Kindheit das Erwachsenenleben prägen.
Eine Frau fährt in die Psychiatrie. So beginnt Antonia Baums neuer Roman „Siegfried“.
Die Ich-Erzählerin ist Mitte 30, Mutter und lebt in einer durchschnittlichen Kleinfamilie. Alex, der Mann an ihrer Seite, arbeitet nachts in einer Bar und träumt vom Studium an der Filmhochschule. Und dann gibt es in ihrem Leben noch Siegfried.
Siegfried ist mein Stiefvater, aber er war immer da, ich bin mit ihm aufgewachsen. An dem Tag, an dem ich in die Klinik fuhr, wachte ich morgens aus einem Traum auf, in dem er tot war.
Das also ist die Ausgangslage des Romans. Und hier, in diesen ersten Zeilen stellt sich auch schon die Grundfrage, die große Frage, die sich durch „Siegfried“ zieht. Nämlich die Frage nach dem „Warum?“
Warum fährt diese Frau mit dem augenscheinlich so normalen Leben eines morgens in die Psychiatrie? Warum musste es so weit kommen?
So viel sei schon mal verraten: Eine geradlinige, klare Antwort wird es nicht geben; schließlich funktioniert so aber auch kein guter Roman. Antonia Baum liefert in „Siegfried“ eher eine treffende Zustandsbeschreibung einer Familie. Dafür lässt sie die Lesenden in das Innenleben der namenlosen Protagonistin eintauchen.
Ich bin das Problem, Geld ist das Problem, dachte ich. Ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen und wiederholte flüsternd, so wie ich früher morgens vor der Schule noch schnell ein Gedicht auswendig gelernt hatte, was passieren musste, damit es weitergehen konnte: das Exposé, das Treffen, die Sendung, das Waschmittel, der Kontostand. Ich musste Siegfried erreichen, ich musste mit Alex sprechen. Um halb sechs musste ich Johnny aus der Musikschule abholen, dann das Abendessen. Ich könnte auf dem Rückweg Pizza aus unserem Lieblingsladen mitbringen, was ich eigentlich nicht mehr machen wollte, um aufs Geld zu achten, aber das war jetzt auch egal.
So entfaltet sich Stück für Stück ein Familienbild, das mit den kleinen und größeren Problemen des Alltags gespickt ist: Alex, der die Hochschulbewerbung nicht ausfüllt – sich dafür die Feierabenddrinks aber nicht entgehen lässt.
Die Erzählerin ist eine Schriftstellerin mit Schreibblockade. Der Vorschuss reicht nicht aus. Der Verlag wartet auf die nächsten Seiten. Der Lektor/Ex-Liebhaber/Ex-Freund bietet gönnerhaft seine Hilfe an. Das Geschirr stapelt sich im Waschbecken. Das Konto im Dispo. In der Beziehung läuft es nicht mehr. Der Betrug.
Mental Load wäre wohl das große Stichwort des Romans. So bezeichnet man diese Alltagsaufgaben, die besonders auf Frauen in Familien lasten.
In fünfundvierzig Minuten würde ich den Tisch decken, Frühstück machen, die Tasche packen, die Waschmaschine füllen. Meine Liste für den Tag schreiben und dann Johnny wecken, ihr beim Anziehen helfen, ihre Zöpfe flechten, später unbedingt Persil kaufen.
Die mentale To-Do Liste wird bei Antonia Baum zum Modus, stakkatohaft wieder und wieder wiederholt, sodass man beim Lesen gestresst aufblicken will und sich fragt: Was muss ich noch erledigen?
Vielleicht weil Antonia Baum die Situationen, die sie im Roman behandelt, auch kennt? Schließlich ist sie, wie ihre Hauptfigur, selbst Schriftstellerin, Journalistin und Mutter.
In ihrem neuen Roman beweist sie erneut ihr dramaturgisches Geschick und verwebt Stil mit Inhalt.
Denn in „Siegfried“ steckt viel mehr als nur eine übervolle Einkaufsliste, nämlich auch dieses bourdieuhafte Aroma, mit dem sich Antonia Baum neben Autor*innen wie Daniela Dröscher oder Christian Baron einreihen lässt.
In den fünf Kapiteln verhandelt sie auch an ihren Figuren die Bedeutung von Herkunft und Habitus. Einmal an Alex: Geboren kurz vor der Wende in Ost-Berlin, aufgewachsen in der Platte, der sich nie so richtig mit seinen Eltern versöhnen konnte.
Er sagte, sie kämen ihm vor wie Kinder, die sich erschreckt hätten, als die Mauer fiel, und sich von dem Schreck nicht mehr erholten. Es ging bei uns nur um Angst. Die haben alles aus Angst gemacht. Das Höchste, was man erreichen konnte, war Sicherheit. Und dann sagte er traurig und mehr zu sich, dass sie ihm nie irgendetwas zum Leben hätten sagen können.
Auf der anderen Seite die Ich-Erzählerin. Sie stammt aus einem Haushalt mit Designer- Möbeln und Alessi-Korkenziehern.
Wohlstand, der vor allem dem titelgebenden Siegfried zu verdanken ist. Siegfried, der Stiefvater, der Unternehmer, der Patriarch, von dem sie sich zu emanzipieren versucht, an dem die sozialen Unterschiede in der Beziehung aber schließlich erkennbar werden:
Saß Siegfried mir irgendwo gegenüber (es waren meist Restaurants und Hotels), dann lagen sein Telefon (erst Blackberry, später das neuste iPhone), der Wirtschaftsteil (auf Buchformat zusammengefaltet) und manchmal ein oder mehrere Schlüssel (Hotelzimmer, Mietwagen, sein Wagen) vor ihm. Es muss für ihn schwer einzuordnen gewesen sein, dass bei Alex nichts lag.
Und auch hier entfaltet sich Seite für Seite, dass hinter dem, was auf den ersten Blick wie ein Ideal erscheint, eine Geschichte aus Gewalt und Schweigen steckt.
Diese Geschichte erzählt Antonia Baum lakonisch und einfühlsam. Einen lauten „Wumms“ gibt es im Plot des Romans nicht. Muss es auch nicht, die Spannung entsteht durch die geschickte Konstruktion: Nicht chronologisch, die Zeitebenen überlappen sich, vieles wird wiederholt und die Leerstellen füllen sich nur allmählich. Man fühlt sich wie in einem Strudel, dreht sich im Kreis und wird langsam in die Katastrophe gesaugt.
Literarisch verhandelt Antonia Baum in „Siegfried“ aber in erster Linie Erfahrungen ihrer eigenen Generation, Erfahrungen von Frauen oder jungen Eltern. Dabei verurteilt sie nicht und auch, wenn sie keine universelle Lösung anbietet, findet sie passende Worte für die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens. Ein gelungener Roman, der beim Lesen die eigene To-Do-Liste aus den Gedanken verdrängen kann.