Die Kritik am Internet ist fast so alt wie das Internet. Aber selten wird sie so fundiert vorgetragen wie von Roberto Simanowski. In seinem philosophischen Essay „Das Verschwinden von Raum und Zeit im Prozess ihrer Digitalisierung“ verknüpft der Medienwissenschaftler Literatur- und Mediengeschichte und erklärt unter anderem, was die Pferdekutsche mit dem Smartphone verbindet.
Auszug aus der Lesung:
Historisch betrachtet war schon die Kutsche, ohne Klimaanlage und Lärmschutz, Verrat am Raum. Darauf verweist Günther Anders in seiner philosophischen Betrachtung über Rundfunk und Fernsehen Die Welt als Phantom und Matrize, die 1956 in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen erschien und mit dieser „Kindergeschichte“ beginnt:
Da es dem König aber wenig gefiel, dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. „Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen“, waren seine Worte. „Nun darfst du es nicht mehr“, war deren Sinn. „Nun kannst du es nicht mehr“, deren Wirkung.
Direkter Weg von der Pferdekutsche, übers Radio zum Smartphone
„Der Mensch desertiert ins Lager seiner Geräte“, ist einer von Anders’ berühmten Sätzen. Die Kutsche ist ein solches Gerät. Der Rundfunk, um den es Anders in diesem Text geht, auch. Von ihm ist es kein allzu langer Weg zum Smartphone. Aber bleiben wir noch einen Moment bei der Kutsche, die schon 150 Jahre vor Anders Stein des Anstoßes war.
Anfang des 19. Jahrhunderts beklagt der bekannteste Spaziergänger der deutschen Literaturgeschichte, Johann Gottfried Seume: „So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann Niemand mehr fest und rein in’s Angesicht sehen, wie man soll.“
Kutsche fahren als „Verrat am Raum“
Für Seume ist die Kutsche nicht nur Verrat am Raum, sondern auch am Menschlichen. Scharfe Worte, die vielleicht durch Karl Gottlob Schelles Buch Die Spatziergänge oder die Kunst spatzierenzugehen motiviert waren, das 1802 erschien und das Motto enthält: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spatzieren geht“.
Erfahren kann man die Welt nur im Gehen, so Schelles und Seumes Fazit. Und zwar im Gehen ohne Begleitung, wie wiederum der bekannteste Einsiedler der amerikanischen Literaturgeschichte sagt, Henry David Thoreau: „Das Bedürfnis nach Gesellschaft bedeutet eine Distanzierung von der Natur.“ Sobald man einen Gesprächspartner an der Seite habe, kommuniziere man weniger mit seiner Umgebung. Erst das einsame Gehen wirft den Gehenden zurück auf sich und die Welt.
Ich gehe, allein, also bin ich. Die Moderne kümmerte sich weder um Schelle oder Seume noch um Thoreau. Sie attackierte das Gehen mit ihren Fahrzeugen. Seit es mobile Medien und soziale Netzwerke gibt, ist auch das Solo-Gehen nicht mehr das, was es für Seume und Thoreau so bedeutsam werden ließ: die Begegnung mit der Natur, mit sich selbst, miteinander – eine Daseinsform.
Mit Smartphone ist der Weg nicht mehr das Ziel
Gewiss, Gehende waren schon seit dem Walkman in ihrer eigenen Welt. Aber da sahen sie immerhin noch, was sie nicht hören wollten. Das Smartphone reduziert den Raum auf eine bloße Distanz zum Zielort. Der Weg ist nicht mehr Teil des Ziels – oder gardas wahre Ziel wie bei Seume, Thoreau & Co. Nur das Ziel ist nun noch das Ziel.
Der Zwischenraum wird zur Zwischenzeit, die man woanders verbringt: im sozialen Netzwerk, im Computerspiel, im Chat mit Freunden, im Cyberspace. Der Bildschirm in der Hand lässt den Raum verschwinden, so wie die Kutsche, die U-Bahn und das Flugzeug. Ich komme, wenn ich gehe, weder zu mir noch zum Raum. Das Smartphone wird zum Fahrzeug.