Antisemitischer Hetzer, rassistischer Wüterich, Kollaborateur mit den Nazis, unbelehrbar nach dem Krieg – das alles verbindet man mit dem französischen Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline, aber auch: einer der großen französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, einer der die französische Literatursprache erweitert und revolutioniert hat. Vor wenigen Jahren hat man verloren geglaubte Manuskripte wieder gefunden: Eine Sensation. Darunter: „Krieg“.
Dass es dieses Buch gibt, ist eine literarische Sensation. Louis Ferdinand Céline musste sich mit dem Vormarsch der Alliierten 1944 auf die Flucht begeben, er landete in Baden-Baden, dann, legendär, im Schloß von Sigmaringen, schließlich in Dänemark. Dort wurde er verhaftet.
1951 kehrte er nach Frankreich zurück, weil das Todesurteil gegen ihn 1950 aufgehoben worden war. Immer wieder pochte er darauf, dass ihm von der Résistance Manuskripte aus seiner Wohnung gestohlen worden waren, so lange, bis es keiner mehr glaubte.
Aber dann tauchte 2021 ein Koffer mit ca. 6000 Manuskriptseiten echten Célines auf, aufbewahrt von einem Theaterkritiker der diesen literarischen Schatz ca. 15 Jahre zuvor ausgehändigt bekommen hatte mit der Auflage, ihn nicht zu veröffentlichen.
Der Grund: die Witwe Célines, in der Geisteshaltung nicht weniger extremistisch als ihr verstorbener Mann, sollte zu ihren Lebzeiten nicht von den Manuskripten profitieren. Die Ironie der Geschichte: sie wurde 107 Jahre alt.
So also 2021: Jetzt können wir die Übersetzung eines Teils lesen, der wohl 1934 geschrieben wurde und in gewisser Weise eine Leerstelle des berühmten Klassikers von Céline füllt, der ihn schlagartig berühmt gemacht hat: „Reise ans Ende der Nacht“. War dort Ferdinand, der Held, im ersten Weltkrieg schwer verletzt worden und dann recht schnell in London gelandet, so bekommen wir jetzt die Geschichte von Ferdinand im Lazarett von „Peurdu-sur-la-Lys“ zu lesen.
Gestrandet im Lazarett von „Peurdu-sur-la-Lys“
Der Stadtname spielt auf „perdu“ an: „verloren“, und damit nicht von ungefähr auf den Schriftseller als dessen Antipode sich Céline sein Leben lang sah, Marcel Proust mit „A la recherche du temps perdu“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Aber auch „peur“, die „Angst“, spielt hinein und Lys, die Lilie, die Wappenblume des französischen Könighauses. Der Name sagt schon: Hier ist nichts mehr in Ordnung, die Zeit ist aus den Fugen.
Was wir zu lesen bekommen, ist ein entfesselter Alptraum, die Horrorvisionen eines Kriegsopfers, das sich selbst in den Krieg verwandelt hat.
„Der Krieg hat mich im Kopf erwischt. Er ist in meinem Kopf eingesperrt.“,
heißt es gleich zu Beginn. Ferdinand trägt eine Kugel in sich, aber mehr noch dröhnt und tobt sein Kopf in einem Dauerlärm, der nicht abzustellen ist. Darum haben wir es nicht mit Realismus zu tun, sondern mit einem unerbittlichen Fieberwahn, in dem Wirklichkeit und Vision eine unentwirrbare Melange eingehen.
Im Krankenhaus trifft Ferdinand auf eine dominante Schwester, deren schräges Plaisir es ist, die verstümmelten Soldaten zu masturbieren und eben mal mit immer größeren Kathetern zu penetrieren, eine sadomasochistische Überbietungsphantasie.
Kriegshorror verwandelt sich in gewalttätige Sexualität
Der Horror des Krieges verwandelt auch die Sexualität in Gewaltbeziehungen. Aber ohne Sex wüsste man nicht, dass man noch lebt. Das verbindet Apokalypse und Geschlechtlichkeit.
Ferdinand droht eine Untersuchung, weil nur er den deutschen Angriff überlebt hat, aber dann wendet sich das Blatt, er wird mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet, während es seinem Trinkkumpel Cascarde an den Kragen geht, weil der sich selbst in den Fuß geschossen hat, um der Front zu entrinnen, ein Todesurteil.
Im Roman wird geredet und geredet, geflucht, beleidigt, gehasst, die Sprache ist pornographisch, tabufrei, die Männer beschimpfen die Frauen, expliziter Sexismus in jedem Satz, aber es klingt wie ein brüllender Schwanengesang, sie wissen, sie haben längst die Macht verloren, als Krüppel an Körper und Seele.
Zwischen intakter bürgerlicher Idylle und Geschlechterkrieg
Der Höhepunkt: der Besuch der Eltern Ferdinands zur Feier der Tapferkeitsmedaille. In einer scheinbar intakten bürgerlichen Umgebung, eingekreist von einer näher rückenden Front, spielt man einen idyllischen Frieden, bis der Geschlechterkrieg im Innersten der Szene ausbricht.
Religion, die heilige Familie, alte Gewissheiten haben ausgedient, jeder, jede kämpft um seine, um ihre jeweiligen Positionen, die alle haltlos sind, wer gerade oben auf war, liegt einen Augenblick später am Boden. Am Ende ist es die Prostituierte Angèle, die Ex-Freundin von Cascade, die sagt, wo es lang geht – nach London.
„Krieg“ ist ein überhitzter Roman. Im Gegensatz zu „Reise ans Ende der Nacht“ scheint er noch nicht komplett durchgearbeitet. Aber vielleicht ist darum die Sprache entfesselt, Vulgarität, Obszönitäten, Umgangssprachliches, Pornographisches, ein mündlicher Sound ganz ohne Tabus, das zeichnet auch diesen Roman aus.
Antisemitismus gibt es keinen, aber natürlich kreisen die Frauenbilder um die Krankenschwester als Boten des Todes, um Angèle, den Engel als Hure, aber die irrlichternde Rasanz, in der sie die Zuordnungen wechseln, verwandeln sie dann doch in individuelle und starke literarische Figuren.
Wenn man diesen apokalyptischen Irrsinn, diese heiße Literatur mit der Kältelehre eines Ernst Jüngers vergleicht, der sich den ersten Weltkrieg mit literarischer Kühlung auf Abstand halten möchte, dann beschwört der eine ohne Beschönigung die Sinnlosigkeit des Schlachtens, während der andere dem Wahnsinn zumindest einen Sinn abzutrotzen versucht – im heroischen Kampf des Einzelnen.
Beide glauben nicht an eine Welt ohne Krieg, aber während Jünger das anscheinend ungerührt akzeptiert, tobt der andere mit nie nachlassendem, unbändigem Furor gegen diese fatalistische Erkenntnis und ohne Hoffnung gegen die da oben, die Offiziere, die Generäle. „Krieg“ - ein pazifistisches Manifest wider Willen.