Buchkritik

Thomas Hettche – Sinkende Sterne

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Ein fiktiver Schriftsteller namens Thomas Hettche kehrt zurück an einen glücklichen Ort seiner Kindheit: das Schweizer Ferienhaus seiner Eltern. Um dort aber festzustellen, dass nicht nur ein gewaltiger Berghang abgerutscht ist, sondern die ganze Realität.

Der reale Thomas Hettche verbindet in seinem neuen Roman scheinbar unvereinbare Genres: Autobiographie und Phantastik.

Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller namens Thomas Hettche, reist in die Walliser Alpen. Dort haben seine verstorbenen Eltern zuletzt in ihrem Haus hoch über dem Rhonetal gelebt, in dem Hettche einst die Kindheitssommer verbracht hat. Auch wenn es nicht leichtfällt – er denkt daran, dass Haus zu verkaufen.

Schnell aber verschiebt sich die Realität ins Befremdliche, Unheimliche. Schon die Einreise ins Wallis wird scharf kontrolliert von martialisch wirkenden Soldaten. Eine Naturkatastrophe hat die Gegend von der Welt abgeschnitten. Ein gewaltiger Bergsturz hat die Rhone aufgestaut und einen See gebildet, in dem mehrere Orte versunken sind.

„Dieser unheimliche See, den es nicht geben sollte. Ich trat ganz nahe an seinen Rand und spähte in das klare Wasser. Dicht unter der Oberfläche die Dächer der versunkenen Häuser, sie schienen zu tanzen im leichten Wellengang...

Vorladung ins Gemeindeamt Leuk im Oberwallis

Aber die Abschottung hat noch andere Dimensionen. Hettche bekommt eine Vorladung ins Gemeindeamt Leuk, wo der örtliche Kastlan und Bannerherr Jesko Zen Ruffinen dem Hausbesitzer aus Deutschland das neue lokale Selbstbewusstsein der Oberwalliser demonstriert:

„Wissen Sie, Herr Hettke, der Transit hat die Menschen hier immer nur am Rand tangiert. Ein Zubrot war das für die meisten, und das gilt auch für den Tourismus, den die Straßen in unsere Täler brachten. Aber er hat die Seelen der Bergbewohner angegriffen, er hat sie erniedrigt, weil er sie zwang, die eigene Lebenswirklichkeit als Schauspiel aufzuführen. Das hat jetzt ein Ende.“

Identitätspolitik nach Walliser Art. Kurzerhand wird dem Deutschen die Enteignung des ererbten Haus und Grunds mitgeteilt.

Hier ist offenbar nicht nur der Berg abgerutscht. Dem von einer Panikattacke heimgesuchten Hettche hilft kurz darauf ein grauhaariger Herr mit Einstecktuch im Jackett auf, als hätte der schon gewartet. Es handelt sich um den Notar seines Vaters, der in einem verfallenen Schloss lebt und aus einem anderen Jahrhundert zu kommen scheint.

Er initiiert Hettche in die uralten Traditionen und Familienfehden des Oberwallis, die plötzlich wieder in voller Geltung stehen – mitsamt einem Vokabular, das wie aus einem alten Roman von Jeremias Gotthelf in Hettches Stil einströmt.

Archaische Schweiz: Familienfehden, Dialekte und Käserei

Diese Drift ins Archaische verstärkt sich in den Gesprächen mit dem Mädchen Serafina und ihrer Mutter Marietta, die den Lebensmittelladen im verlassenen Dorf führt. Hettche erkennt in Marietta eine Kindheitsfreundin und Sommerferienliebe wieder.

Er begleitet sie eine Zeitlang auf eine hohe Alp, assistiert ihr auf der Bergweide beim Käsemachen und kommt ihr auch körperlich nahe. Die beiden Frauen umgurren ihn mit ihrem Schwyzerdütsch und verwirren ihn mit alten Jäger-Legenden und frommen Fabeln:

„Und wenn der Gletscher ächzt und stöhnt, seien das die Klagelaute der Armen Seelen. Sie sind eingefroren im spiegelhellen Eis, wandern durch die blau- und grünschimmernden Gänge und Spalten. So zahlreich sind die Armen Seelen im eisigen Kerker, man kann keinen Fuß auf den Gletscher setzen, ohne ihnen aufzutreten.“

Wie Hans Castorp hat der Ich-Erzähler Hettche seinen Zauberberg gefunden, von dem er nun gar nicht mehr fortwill. Um der Enteignungsdrohung des Kastlans zu entgehen, vermittelt der Notar ein Treffen mit der Frau, der er als „Truchsess“ dient: Noé de Platea, Bischöfin von Sion, Präfektin des Wallis.

Hier schleicht sich der Roman dann allerdings noch tiefer ins Phantasmagorische: Die Bischöfin, eine schwarze Frau, entblößt vor Hettche, dem „ungläubigen Thomas“, ihr männliches Geschlechtsteil.

„Fürchte dich nicht“, sagte sie sanft. „Alles ist möglich. Während die alten Götter die Welt aus dem schufen, was da war, hat unser Gott sie aus dem Nichts gemacht. Und er ermuntert uns, es ihm gleichzutun. Wir sind die Auffahrtsrampe zur Überwindung des Fleisches. Wir können die Welt so konstruieren, wie wir es wollen… Die Seele ist stets im falschen Körper, Herr Hettche, die Heilige Kirche sagt das schon immer.“

Abenteuerlicher sind alte christliche Dogmen noch nicht mit neumodischer Gender-Theorie zusammengedacht worden. Für den Erzähler aber – und hier ist die Hettche-Figur sehr nah beim realen Schriftsteller Thomas Hettche – ist das verwerflicher Konstruktivismus. Sieht er sich doch selbst als Opfer einer Kulturrevolution und ihres neuen Tugendterrors.

Denn zuhause in Deutschland hat er gerade seine Creative-Writing-Dozentenstelle verloren. Fixierung auf den westlichen Kanon, Beharren auf vermeintlich überholten literarischen Qualitätsvorstellungen und, na klar, „sexistischer Sprachgebrauch“ lauten die Vorwürfe.

Hettches kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben

Von hier aus zieht Hettche dem Roman eine diskursive Ebene ein, in der es nicht nur um Werke wie die „Odyssee“ und „Sindbad, der Seefahrer“ geht, sondern auch um poetologische Fragen und den Sinn des Schreibens.

Zu lesen sind diese klugen, mitunter aber auch etwas gespreizten Passagen nicht zuletzt als kritische Auseinandersetzung Hettches mit seinen eigenen schriftstellerischen Anfängen im Zeichen des Poststrukturalismus. Diesen macht er mitverantwortlich für die Aufweichung aller Begriffe von Realität und Wahrheit, die erst in den heutigen identitätspolitischen Theorien ihr ganzes Destruktionspotential entfalten würde.

„Wir haben Schuld an dem, was jetzt geschieht. Wie fasziniert wir waren von Lyotards Abgesang auf die großen Erzählungen. Wie begeistert wir Nietzsche zitierten, die Wahrheit sei ein Heer von Metaphern.“

Gegen das Identitäre macht Hettche nun eine Schönheit jenseits des Ästhetizismus geltend. Darin habe…

„…unser Glauben an das Subjekt seine Grenze, denn Schönheit hat keine Identität, ist immer und unausweichlich Objekt. Ob Erzählen ohne die Sehnsucht nach ihr überhaupt möglich wäre?“

Die Antwort gibt der Roman selbst, indem er die schroffe Hochgebirgslandschaft immer wieder in zweifellos sehr schönen, meditativen Sätzen beschwört. Darin besteht der größte Reiz dieses bewegenden und überaus vielschichtigen Romans.

Nicht zum ersten Mal findet ein Schriftsteller Beruhigung und Zuflucht vor den Wirrnissen der Gegenwart in der liebevoll-genauen Beschreibung der Natur und der Landschaft, die allerdings selbst – so ewig-mächtig sie auch scheinen mag – dem unaufhörlichen Wandel unterliegt.

Alljährlich bringen die kalten Fallwinde des Herbstes den Tod, der am Ende auch dem Schriftsteller in seiner Einöde, dem ungeheizten alten Haus am Hang, bedrohlich nahe kommt. Eine arme Seele auch er.

Platz 7 (27 Punkte) Thomas Hettche: Sinkende Sterne

Alles ist vertraut und doch anders: Ein geerbtes Ferienhaus im Wallis. Erinnerungen an eine Kindheit. Eine Naturkatastrophe, die das Land in einen archaischen Zustand zurückgeworfen hat. Und ein Schriftsteller, der Bilanz zieht. Unheimlich.

Zeitgenossen Thomas Hettche: „Wenn man sich `das Urmel`oder `Jim Knopf`anschaut, sind das doch eigentlich immer Geschichten von Patchworkfamilien.“

Mit seinem aktuellen Roman „Herzfaden“ hat der Berliner Autor Thomas Hettche die Kindheit vieler Generationen heraufbeschworen, indem er auf fantastische Art die Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt. Und damit auch ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte. Das Surreale, das Märchenhafte, spielt in vielen seiner Romane und Texte eine wichtige Rolle. Für Thomas Hettche ist das Buch nach wie vor konkurrenzfähig, biete es doch die einzigartige Erfahrung, mit einer imaginären Welt allein zu sein. Beim Lesen gehe es um einen Freiheitsraum und dass Worte lebendig werden können.

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